Den Weltrekord verfehlte sie nur um 15 Zentimeter. Dem Titel folgte die Berufung in die Nationalmannschaft für den Frauenländerkampf gegen Großbritannien.
Patchwork-Identität: Erinnerungen an Martha Jacob I Die deutsche, englische und südafrikanische Meisterin im Speerwurf wäre am 7. Februar 100 Jahre alt geworden
Die Lebensdaten und -orte von Martha Jacob markieren das Spannungsverhältnis lebens-geschichtlicher Brüche einer ursprünglich deutsch-jüdischen Frauenbiographie, deren Konstante der Sport war. Schon frühzeitig zeigte sie Interesse an jeder Art von Leibesübungen.
Sie turnte beim jüdischen Verein Bar Kochba und trat 1924 auch dem Berliner Sport-Club bei, um dort Hockey und Handball zu spielen. Bald entdeckte sie ihre Leidenschaft für die Leichtathletik, insbesondere für die Wurf- und Stoßdisziplinen.
1928 folgte sie ihrem Trainer, dem erfolgreichen Zehnkämpfer Arthur Holz, zum Sport-Club Charlottenburg. Im selben Jahr zog es sie zum Studium an die Deutsche Hochschule für Leibesübungen.
Erster sportlicher Höhepunkt ihrer Laufbahn waren die Deutschen Leichtathletik-Meisterschaften 1929 in Frankfurt am Main. Gerade 18jährig wollte sie sich im Kugelstoßen qualifizieren, scheiterte aber bei den Vorausscheidungen. Überraschend siegte sie jedoch mit dem Speer und konzentrierte sich daraufhin auf diese Disziplin. Als klare Außenseiterin setzte sie sich in einem starken Feld am Ende sogar gegen die damalige Weltrekordhalterin Augustine Hargus durch und wurde mit 38,24 Metern Meisterin.
Den Weltrekord verfehlte sie nur um 15 Zentimeter. Dem Titel folgte die Berufung in die Nationalmannschaft für den Frauenländerkampf gegen Großbritannien.
Es kam einer kleinen Sensation gleich, dass man ihr anbot, die britischen Leichtathletinnen im Frühjahr und Sommer 1931 für die Olympischen Spiele in Los Angeles zu trainieren. Sie nahm an und wurde erste ausländische Trainerin der „British Women's Athletic Federation". Bereits im Frühjahr 1932 engagierten sie die Briten erneut. Erst nach ihrer Rückkehr widmete sie sich wieder ihrem Studium und dem eigenen Training. Neben regelmäßigen Starts für den SCC bestritt sie auch immer wieder Wettkämpfe für Bar Kochba.
Eine Woche vor ihrem 22. Geburtstag wurde Hitler zum Reichskanzler ernannt. Die sogenannte Gleichschaltung erfasste bald auch den organisierten Sport und erreichte im April den SCC.
Auf einer außerordentlichen Mitgliederversammlung wurde die Einführung eines Arierparagrafen beschlossen. Noch im selben Monat begab sich Martha nach London. Mit wenig Geld und kleinem Gepäck versuchte sie hier einen Neuanfang. Doch selbst als bekannte Leistungssportlerin und Trainerin, Diplomsportlehrerin und ausgebildete Masseurin war es 1933 fast unmöglich, eine einträgliche Beschäftigung zu finden, insbesondere als deutsche Jüdin ohne offizielle Arbeitserlaubnis. Die Suche führte sie über Frankreich schließlich in die Niederlande.
Trotz der Probleme startete Martha bei verschiedenen Wettkämpfen, stellte englische Rekorde im Diskuswerfen und Kugelstoßen auf, errang den Meistertitel mit dem Speer. Für das britische Team bei den europäischen Makkabi-Meisterschaften in Prag im September 1933 gewann sie Gold mit Speer und Diskus. Anlässlich der 2. Makkabiah 1935 in Palästina startete sie für das deutsche Team. An dem weltgrößten jüdischen Sportfest nahmen rund 7.000 Athleten aus 27 Staaten teil. Martha verpasste dreimal knapp den Sieg – im Kugelstoßen, Speer- und Diskuswerfen wurde sie jeweils Zweite hinter der US-Diskus-Weltrekordhalterin Lillian Copland.
Trotz der sich verstärkenden Ausgrenzung der Juden in Deutschland zog es Martha immer wieder zurück nach Berlin, um an jüdischen Sportfesten teilzunehmen und bei diesen Gelegenheiten Familie und Freunde zu besuchen. Zuletzt startete sie im Juli 1935 auf dem Sportplatz der jüdischen Gemeinde Berlin im Grunewald.
Nach dem Wettkampf wurde sie durch die Polizei verhört und fasste daraufhin den Entschluss, Deutschland für immer den Rücken zu kehren. Ihr ältester Cousin, der von einem Ruderwettkampf 1933 in Südafrika nicht zurückgekehrt war, sammelte die für ein dauerhaftes Visum notwendigen 100 Pfund und ermöglichte Martha damit die Einreise.
Nach drei Jahren auf der Suche nach einer neuen Lebensgrundlage emigrierte sie und fand ihre neue Heimat in Johannesburg, Südafrika. Hier lernte sie ihren späteren Ehemann Barney Shore kennen, mit dem sie die Töchter Sandra und Hazel bekam. Letztere sammelt, archiviert und „flickt" die Patchwork-Identität ihrer Mutter, zur Erinnerung an das Schicksal einer jüdischen Sportlerin, die einmal in Berlin zu Hause war und es gerne bleiben wollte.
Zu Hause: das ist keine Nation. Das ist der Ort, an dem man sich einer Gemeinschaft zugehörig fühlt, Familie und Freunde hat. Diesen Ort gab es nicht mehr, als Martha Shore im Sommer 1952 nach Berlin reiste. Zwei Tage nach ihrer Ankunft wurde sie von ihren Erinnerungen überwältigt in einer Stadt, die für sie zum sozialen Nirgends geworden war und in die sie nie wieder zurückkehrte. Am 13. September 1976 starb Martha Jacob 65jährig in Kapstadt.
Weitere Informationen zu Martha Jacob finden sich im wissenschaftlichen Begleitband zur Ausstellung „Vergessene Rekorde" (Bahro, Braun, Teichler: Vergessene Rekorde, Berlin 2010), der für 4,50€ bei der Bundeszentrale für politische Bildung bestellt werden kann.
Die Homepage der Wanderausstellung findet sich unter https://www.vergessene-rekorde.de .
Berno Bahro
Quelle: DOSB