Radrennen - Symbolbild - Foto: Horst Milde
Paris-Roubaix: Spektakel, Drama, ganz großer Sport Sonny Colbrelli – ein unerwarteter Sieger sprintet in die Unsterblichkeit – Von KLAUS BLUME
ROUBAIX – „Ich war ganz klar im Kopf. Ich wusste ja, ich bin in Form. Ich wusste auch, wie dieses Rennen verläuft. Und ich wusste obendrein, dass Paris-Roubaix zum ersten Male nicht im Frühjahr, sondern im Herbst gefahren wird. Also stellte ich mich darauf ein. Blendete alles andere aus.
Denn ich bin ja Profi:“
Das sagte der 27-jährige Kölner Nils Politt vor dem 118. klassischen Radrennen Paris-Roubaix im Gespräch mit Germanroadraces. Zur Erinnerung: Politt hatte das Rennen 2019 hinter dem Belgier Philipp Gilbert als Zweiter beendet.
„Ich hatte keine Angst, gegen all‘ diese jungen Leute zu fahren. Ungeachtet dessen blieb Paris-Roubaix auch in diesem Jahr mein großer Traum. Daraufhin habe ich das ganze Jahr hingearbeitet – trotz meiner Stürze und sonstigen Rückenschläge.“ Das sagte der 32-jährige John Degenkolb vor dem Start zum diesjährigen Paris-Roubaix. Degenkolb hatte bei diesem Rennen im Schlamm und im Dauerregen, wie so viele Favoriten, keine Chance. Aber unerwartet der bereits 31jährige Italiener Sonny Colbrelli vom Garda-See, ein gewiefter und schneller Sprinter. Er feierte nach Andrea Tafis Triumph im Jahre 1999 endlich wieder einen italienischen Erfolg im Velodrom zu Roubaix.
Aber warum schaut alle Welt ausgerechnet immer auf dieses Eintagsrennen im Norden Frankreichs?
Paris-Roubaix, hört man, sei nun einmal ebenso berühmt wie die Tour de France. Es sei DAS Synonym für Radrennen schlechthin, und zwar weltweit; für eine Ausdauerprüfung der Sonderklasse, und zugleich für etwas völlig aus der Zeit Gefallenes. Auch diesmal? „Es fühlte sich nicht an, wie der Abschluss einer Saison, sondern wie ein Neuanfang“, staunte der renommierte Däne Kasper Asgreen, der im Frühjahr die berüchtigte Flandern-Rundfahrt gewonnen hatte. Und der Belgier Philipp Gilbert, 2019 umjubelter Triumphator im Beton-Oval zu Roubaix, erzählte uns: „Ich bin wohl schon an die 50 000 Mal über das Kopfsteinpflaster von Paris nach Roubaix gefahren – doch am Sonntag war ich dort, wo ich jeden Stein persönlich kannte, am Limit.“
Nicht nur wegen des scheußlichen Wetters! Vor allem, weil sich zuvor 900 Tage lang niemand auf den historischen dreißig (!) Kopfsteinpassagen bewegt hatte: Nicht mit dem Velo, nicht einmal per pedes. Freiwillige der „Freunde von Paris-Roubaix“ haben letzte Woche dann gemeinsam mit Schülern einer Gartenbauschule versucht, die gesamte Strecke zu reinigen. Mit einer mechanischen Bürste bemühten sie sich, im Wald von Arensberg – einer Schlüsselstelle des Rennens – das Moos von den alten Steinen zu kratzen. „Doch was hilft das schon? Regen verändert das Pflaster dann doch wieder dramatisch“, erinnert sich der Belgier Johan Museeuw, der das letzte große Regenrennen im Jahr 2002 für sich entscheiden konnte.
Apropos, die Historie: Der letzte französische Sieg auf diesen verrückten französischen Straßen datiert übrigens aus dem Jahre 1997, damals überraschend heraus gefahren von dem Bretonen Frederic Guesdon, der obendrein später in eine Doping-Affäre verwickelt war. Er war der 28. französische Gewinner in Roubaix. Doch Rekordsieger blieben bis Sonntag die Belgier mit 57 (!) Erfolgen. Und mit Roger de Vlaeminck und Tom Boonen stellen sie – selbstredend – auch jene zwei Fahrer, die als Einzige viermal in Roubaix triumphieren konnten. Tom Bonnen begeisterte schon deshalb die internationale Presse, weil er in flämisch, französisch, englisch, deutsch und italienisch parlierte – und das nach Herzenslust.
Um Paris-Roubaix zu gewinnen, so ein geflügeltes Wort in der Szene, brauche es zum Schluss neben einem unbändigen Siegeswillen vor allem einen kühlen Kopf. Sieben deutsche Profis hatten – vor Degenkolbs Triumph 2015 – vergeblich versucht, kühl bis ans Herz, den Triumph von Josef Fischer aus dem Jahre 1896 zu wiederholen. Es gelang sogar dem engagierten Olympiasieger Olaf Ludwig nicht, der 1992 Zweiter und im Jahr drauf Dritter hinter den Franzosen Gilbert Duclos-Lassalle wurde.
Auch nicht Steffen Wesemann, der 2007 Rang drei holte, und zuvor, im Jahre 2002, nur von dem Belgier Johan Museeuw geschlagen werden konnte. Was, wie er es uns damals sagte, einem Ritterschlag gleich gekommen sei.
Und diesmal? Minutenlang wälzte sich Sonny Colbrelli auf dem nassen Rasen des Velodroms in Roubaix.
Laut „Mama mia“ schreiend, schließlich schluchzend und lauthals weinend zu begreifen, dass auch er nun zu jenen Rennfahrern gehört, die man schlicht die „Unsterblichen“ nennt.
Klaus Blume
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