Ich weiß nicht, ob seine Prothesen nicht Hilfsmittel sind, die ihm einen Vorteil verschaffen. Ich habe ihn laufen sehen: Nach fünfzig Metern ist er in Schwung, und man glaubt, er fliegt.
Paralympics-Siegerin Marianne Buggenhagen – „Geht es gerecht zu, bin ich dabei“ – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Marianne Buggenhagen hat bei den Paralympics in Peking neun Mal Gold gewonnen und ihren Weltrekord im Diskuswerfen auf 27,80 verbessert. Die 55-Jährige, die am Freitag in Düsseldorf mit dem Preis für Toleranz und Fairplay ausgezeichnet wurde, spricht im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über unfaires Regelwerk, ihren Abschied vom Leistungssport und ein mögliches Comeback.
Die Paralympics in Peking sollten Ihr Abschied vom Leistungssport sein. Juckt es Sie inzwischen schon wieder in den Fingern?
Ich will nicht mehr täglich zwei bis drei Stunden, sondern nur noch dreimal in der Woche trainieren. Schauen wir mal, was dabei herauskommt. Kann ja sein, dass ich so locker bin, dass ich den Diskus 27,89 Meter weit werfe.
Haben die Paralympics in China etwas verändert?
Sie waren ja nur ein Event. Aber die Volunteers haben, vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben, realisiert, dass die behinderten Sportler Menschen sind. Die würden sich wundern, wenn es nach den Paralympics überhaupt keine Behinderten mehr im öffentlichen Leben gäbe. Tausende sind in die Stadien gekommen, um zu sehen: Wie hoch springt ein Einbeiniger, wie schnell fährt jemand im Rollstuhl? Ich habe ihre Neugierde gesehen, die in sportliches Interesse übergegangen ist: Was ist noch möglich? Auch sie würden sich wundern, wenn alle Behinderten verschwänden. Die chinesischen Sportler waren Botschafter in ihrem eigenen Land.
Sind Spiel und Sport Menschenrechte?
Der Mensch ist für Bewegung gemacht. Wenn er an die Leistungsgrenzen gehen möchte, soll die Gesellschaft ihm das ermöglichen.
Und wenn Oscar Pistorius, der Läufer ohne Beine, an den Olympischen Spielen teilnehmen und der Leichtathletik-Verband das verhindern will?
Ich weiß nicht, ob seine Prothesen nicht Hilfsmittel sind, die ihm einen Vorteil verschaffen. Ich habe ihn laufen sehen: Nach fünfzig Metern ist er in Schwung, und man glaubt, er fliegt. Liegt das an den Prothesen? Natalie du Toit, die Schwimmerin, hat garantiert keinen Vorteil dadurch, dass sie mit nur einem Bein schwimmt. Wenn ich das Hilfsmittel Rollstuhl einsetze, bin ich schneller als jeder Marathonläufer. Vor vierzehn Jahren bin ich eine Zeit von 2:03 Stunden gefahren. Man muss Regeln haben, damit sich niemand einen Vorteil verschafft.
Das klingt, als hätten Sie schlechte Erfahrungen gemacht.
Die Griechen hatten sich bei den Paralympics Autofedern in den Rücken ihrer Rollstühle gebaut; Schwerstgeschädigte ohne Rumpfstabilität. Sie haben sich mit dem Arm so abgestoßen, dass sie mit Schwung in die Lehne drückten, zurückfederten, und in dem Moment haben sie geworfen. Es gibt noch keine Richtlinie, die das verbietet. Sie hatten das geübt und waren im Vorteil.
Ihr Rücktritt hat einen bitteren Beigeschmack, weil sie erfolglos gegen die Ihrer Meinung nach unfaire Punktregel in der Leichtathletik gekämpft haben. Worum geht es dabei?
Das Punktesystem sollte sich nach dem Grad der Schädigung richten: Je größer die Schädigung, desto geringer die notwendige Weite. So ist es aber nicht. Der Verband macht die Weltrekorde zum Maßstab. Ich habe deshalb mit meinen Weiten dafür gesorgt, dass meine, die Startklasse 55, regelrecht bestraft wird. Startklasse 56, in der die Sportler ihre Oberschenkel einsetzen können, die also weniger geschädigt sind als wir, hat so schwache Weltrekorde, dass für sie ein geringerer Maßstab gilt. Und wir treten im selben Wettkampf an!
Warum sind Sie so überlegen?
Ich war schon vor meiner Behinderung Diskuswerferin und habe eine sehr gute Technik. Ich bin 1,90 Meter groß. Ich habe eine Riesenspannweite. Ich habe einen erstklassigen Trainer. In meiner Startklasse werfen sie maximal zwischen 23 und 25 Meter. Es wäre schon gerechter, wenn man den Mittelwert der besten vier Werferinnen zum Maßstab nehmen würde und nicht meine Bestleistung, die zwei Meter über der der Zweitbesten liegt.
In der Klasse derjenigen, die ihre Oberschenkel einsetzen können, liegt der Weltrekord bei 24 Metern. Deshalb bekommen sie für ihre Weiten dieselbe Punktzahl wie wir. Der Weltrekord im Kugelstoßen in deren Startklasse steht bei 8,63 Meter. Meiner steht bei 9,06 Meter. Das ist ein halber Meter. In der Punktwertung ist es dasselbe. Das ist ungerecht.
Philip Craven, der Vorsitzende des Internationalen Paralympischen Komitees, kommt nächste Woche zur Nacht der Stars nach Berlin. Wenn er sich von einer Regeländerung überzeugen ließe …
… wäre ich nächstes Jahr bei der Weltmeisterschaft in Bangalore dabei, wenn es dann gerecht zuginge. Aber wer weiß, ob ich mich überhaupt qualifizieren würde. Wissen Sie, was die Paralympics-Norm unseres Verbandes im Diskuswerfen war? Mehr als 29 Meter!
Zwei Meter über dem Weltrekord?
Ich habe keine Norm erfüllt, sondern bin großzügig mitgenommen worden. Das zeigt, dass die Formeln, die da eingesetzt werden, nicht stimmen. Auch wenn ich mir viele Feinde mache, werde ich weiter gegen diesen Unsinn kämpfen.
Die Fragen stellte Michael Reinsch. Frankfurter Allgemeine Zeitung, Freitag, dem 7. November 2008