Olympia-Gold gewinnt keine von beiden, weder Gretel Bergmann noch Marie Ketteler. Die Jüdin Bergmann, weltbeste Hochspringerin, durfte nicht siegen bei Hitlers Festspielen, die junge Frau, die ein Mann war, wollte im Wettbewerb nicht siegen. Die Außenseiter holten sich ihren ganz persönlichen Triumph über die Nazis. ©Horst Milde
Olympische Spiele 1936 – Der verbotene Himmel – Joachim Huber im Tagesspiegel – „Berlin 36“, 20 Uhr 15, ARD
Olympia-Gold gewinnt keine von beiden, weder Gretel Bergmann noch Marie Ketteler. Die Jüdin Bergmann, weltbeste Hochspringerin, durfte nicht siegen bei Hitlers Festspielen, die junge Frau, die ein Mann war, wollte im Wettbewerb nicht siegen. Die Außenseiter holten sich ihren ganz persönlichen Triumph über die Nazis.
Ganz so ist es nicht gewesen, bei Olympia 1936 in Berlin. Aber die Grundposition der Kinokoproduktion stimmt. Gretel Bergmann war schon nach London gegangen, da holten die Nazis sie zurück. Sie sollte der Weltöffentlichkeit demonstrieren, dass in der deutschen Olympiamannschaft Juden zugelassen waren, anderenfalls drohten die Amerikaner ja mit Boykott
Aber gewinnen durfte die Alibi Jüdin auf gar keinen Fall, also wurde Marie Ketteler mit ins Team der Hochspringerinnen geholt. Als die amerikanische Mannschaft nach Berlin aufgebrochen war, wurde Bergmann ausgebootet, sie hatte ihren Zweck erfüllt. Marie Ketteler wurde im Wettkampf dann Vierte, weil sie Vierte werden wollte.
Keine Medaille für Nazideutschland, quasi als Rache für den Betrug an Gretel Bergmann.
Ketteler hieß tatsächlich Dora Ratjen, ob die Nazis um ihr wirkliches Geschlecht wussten, ist unter Historikern umstritten, die echte Gretel Bergmann, die mit ihrer Familie aus Nazideutschland fliehen konnte, erfuhr erst Mitte der 60er Jahre, dass Dora Ratjen ein Mann war. Auch waren sie im wirklichen Leben nicht die Freundinnen, die sie im Film werden. Nun muss Film nie exakte Wissenschaft sein. Die Wirklichkeit darf für Story und Spannung gebogen werden, wenn die Wahrheit nicht selbst verbogen wird. Und das wird sie nicht in „Berlin 36“. Adolf Hitler war skrupellos, wenn es um den Triumph der eigenen Ziele ging. Identitäten, ein Leben, die Würde des Menschen, sie zählten nichts, es zählte nur der Sieg der arischen Rasse.
Der Film von Regisseur Kaspar Heidelbach und Autor Lothar Kurzawa ist eng geführt, konzentriert auf die Beziehung Bergmann/Ketteler, ihre Konkurrenz, ihre wachsende Beziehung, ihren ganz eigenen Triumph.
Karoline Herfurth als Gretel und Sebastian Urzendowsky als Marie stanzen die Figuren erst grob aus, um sie dann feiner zu schleifen. Wobei die Bergmann schneller zu interessanter Widerspenstigkeit findet, weil Herfurth für ihre Figur deutlich mehr Raum, mehr Zeit, mehr Personnage beanspruchen darf. Regisseur Heidelbach spart bei ihr (und bei Marie Ketteler) nicht an Closeups. Der Reichssportführer Hans von Tschammer und Osten, gespielt von Thomas Thieme, ist dagegen Masse, nicht Mensch.
Überhaupt, die Nazis. Warum sind sie in deutschen Filmfiktionen stets so simple, so tumbe Gestalten? Wahrscheinlich wollen die verantwortlichen Produzenten auf Nummer sicher gehen, ihre superkorrekte Haltung ausstellen. Aber dieser Blickwinkel, dass verschlagene Stiernacken und sinistre Bärtchenträger mühelos ein Volk auf Linie bringen und „Feinde des Reiches“ von der Bildfläche vertreiben konnten, ist eine grobe Unterschätzung der Nationalsozialisten, ihrer Anziehungskräfte, ihrer Raffinesse, ihrer Perfidie.
„Berlin 36“ weiß um diese Gefahr und weicht ihr nicht aus, trotzdem die Produktion auf Hauruckdramaturgie setzt. Der Zuschauer sieht als Ergebnis keinen Geschichts-, er sieht einen Gefühlsfilm. Das Kitschkino leuchtet nur von Ferne, dafür bleiben die historisch notwendigen Einflusskräfte zu präsent.
Die Idee zum Film stammt übrigens von Eric Friedler, der den sehr viel überzeugenderen Beitrag über Gretel Bergmann produziert hatte, den Dokumentarfilm „Die Angst sprang mit“. Da wird sauber seziert, wie die Kalkulation der Nazis war, wie verhandelt, gehandelt und misshandelt wurde.
Gretel Bergmann lebt mit 98 Jahren in New York. Sie ist immer noch wütend über den ihr vorenthaltenen Sieg 1936: „Vor 100 000 Menschen zeigen, was ein jüdisches Mädchen kann, das wäre der Himmel gewesen.“ Dora Ratjen, bereits 1938 als Mann erkannt und dann als Heinrich Ratjen auf der Welt, starb 2008, niemals daran interessiert, dass ihre/seine Geschichte bekannt würde.
Joachim Huber im Tagesspiegel, Mittwoch, dem 11. Juli 2012