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2016

2014 IAAF Gala Awards Monaco, Monte Carlo November 20-22, 2014 Photo: Giancarlo Colombo@PhotoRun Victah1111@aol.com 631-291-3409 www.photorun.NET

Olympia in Rio – Leichtathletik am Abgrund – Michael Reinsch, Rio de Janeiro in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

Der Himmel hat der Leichtathletik Faith geschenkt. Glaube fehlt dringend in der Kernsportart Olympias. Dabei ist sie nun da: Faith Kipyegon, eine 22 Jahre alte Läuferin aus Kenia.

Sie heftet sich an die Fersen von Genzebe Dibaba, als diese auf der vorletzten Runde des 1500-Meter-Laufes ihren gefürchteten Spurt beginnt. An diesem Abend ist er besonders gefürchtet.

Erst im Juni nahm die spanische Polizei eine Razzia in Dibabas Trainingslager bei Barcelona vor, beschlagnahmte einige Kartons Doping-Mittel und nahm Trainer Jama Aden fest. Nicht schon wieder soll die 1500 Meter eine Läuferin gewinnen, die ihre Goldmedaille nur geliehen bekommt.

Asli Çakir Alptekin, der Ersten auf dieser Strecke 2012 in London, wurde ihr Olympiasieg nach einem Jahr aberkannt – Doping. Auch ihre auf Platz eins nachgerückte türkische Mannschaftskameradin Gamze Bulut scheint gedopt gewesen zu sein; ihr droht die Disqualifikation.

Die Russinnen Ekaterina Kostetskaja und Tatjana Tomaschowa sind bereits aus der Ergebnisliste gestrichen, ebenso die Weißrussin Natallia Kareiwa und die Äthiopierin Abeba Aregawi.

Das Resultat der Olympischen Spiele von London ist eine Farce.

„Gut vorbereitet. Ich danke Gott“

100 Meter vor dem Ziel wirkt es, als gehe Genzebe Dibaba die Puste aus.

Der Frau, die vor einem Jahr zum Weltmeistertitel spurtete und mit ihrer unglaublichen Tempohärte den mehr als zwei Jahrzehnte alten Weltrekord der Chinesin Qu Yunxia unterbot (in 3:50,07 Minuten), scheint nun etwas zu fehlen. Sie habe in den vergangenen Wochen an einer Oberschenkelverletzung gelitten, lässt sie aus dem Amharisch übersetzen. „Ich möchte Ihnen versichern, dass ich sauber und kristall-klar von Doping bin.“

Ihr Trainer sitze leider in Untersuchungshaft, sie warte auf die Entscheidung des Welt-Leichtathletik-Verbandes IAAF. Spreche dieser Aden frei, setzte sie die Zusammenarbeit fort; wenn nicht, dann nicht.

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Faith Kipyegon spurtet also zum Olympiasieg. „Ich war gut vorbereitet. Ich danke Gott“, sagt sie, gefragt zum Thema Doping. Mit 17 Jahren war sie Jugend-Weltmeisterin, mit 18 Junioren-Weltmeisterin und im vergangenen Jahr, mit 21, Zweite der WM.

„Wir in Kenia sind dank Doping-Kontrollen sauber.“

Das wäre eine Überraschung, musste doch der Geschäftsführer des kenianischen Verbandes heimreisen, weil er Journalisten, die sich als Trainer und Manager vorstellten, vor versteckter Kamera anbot, Doping-Kontrollen zu terminieren und zu verhindern. 15 kenianische Leichtathleten sind trotz seiner Expertise wegen Dopings gesperrt.

Dies allein dürfte nicht der Grund für die bizarre Stimmung im halbleeren Olympiastadion sein, der aufgepeppten Arena des Fußballklubs Botafogo, benannt nach dem am Montag gestorbenen Paten des Weltfußballs, Joao Havelange.

Gerade drei Entscheidungen fallen an diesem Abend; dem Hochsprung, den der Kanadier Derek Drouin mit 2,38 Meter gewinnt, und dem Hürdensprint, der in 13,05 Sekunden an den Jamaikaner Omar McLeod geht, fehlen die russischen Weltmeister, Iwan Uchow und Sergej Schubenkow.

„Je mehr Teilnehmer ein Wettbewerb hat, desto spannender ist er“, sagt dazu der Ukrainer Bogdan Bondarenko, Dritter im Hochsprung. Die Russin Darija Klischina setzt sich in der Qualifikation des Weitsprungs durch. Es sei komisch, als einzige Russin zu starten, sagt sie. Ihr fehle das Team.

Die Leichtathletik hängt in der Luft

Als bei der Siegerehrung der Stabhochspringer Renaud Lavillenie seine Silbermedaille bekommt, bebt das Stadion von Buhrufen.

Als Olympiasieger Thiago Braz da Silva ausgezeichnet wird, scheinen Hunderttausend zu jubeln. Die Regie hat offenbar den Lautstärkeregler für den in der Kurve aufgenommenen Applaus bis zum Anschlag hochgeschoben. Sekunden später verliest ein Sprecher den Appell des Internationalen Olympischen Komitees an das Publikum, den Athleten Respekt zu zollen. Ja was nun? Anstand oder gepimpte Stimmung?

Die Leichtathletik hängt in der Luft, dicht am Abgrund.

Ermittlungen gegen den vor einem Jahr abgetretenen und wegen des Vorwurfs der Erpressung und der Geldwäsche verhafteten Lamine Diack, lange Präsident des Verbandes und Mitglied des IOC, haben noch nicht zu einer Anklage der französischen Justiz geführt. Ermittlungen wegen Korruption bei der Vergabe der Weltmeisterschaften nach Qatar und zum Nike-Jubiläum nach Portland in den Vereinigten Staaten halten auch noch an. Doping-Kontrollen von rund dreißig Leichtathleten bei der Razzia von Barcelona haben keine Resultate erbracht.

Die IAAF hat die Mission, sich zu verändern

Und was soll man davon halten, dass Mo Farah, der am Samstag mit seinem vierten Olympiasieg auf der Langstrecke zu einem der größten Leichtathleten der Geschichte werden kann, angesprochen auf Fotos, die ihn mit Jama Aden zeigen, so tut, als sei der dubiose Coach ein Fan, der mal ein Selfie mit ihm gemacht habe?

Sebastian Coe, der sieben Jahre Vizepräsident der IAAF war und nichts von den Machenschaften Diacks, der Russen und der Anti-Doping-Abteilung mitgekriegt haben will, will seinen Sport neu aufstellen. Er wirkt glaubwürdiger, seit Thomas Bach und das Internationale Olympische Komitee dem russischen Team Tür und Tor geöffnet haben.

Bach und die IAAF schlossen den russischen Leichtathletik-Verband schon im November aus. „Die IAAF hat die Mission, sich zu verändern“, sagt Coe in Rio, als er den neuen Vorstandsvorsitzenden des Verbandes vorstellte, Oliver Gers.

Der gebürtige Franzose war in den Vereinigten Staaten und Großbritannien als Medien- und Content-Manager unter anderem bei Endemol und IMG beschäftigt. „Die IAAF steht vor herausfordernden und aufregenden Richtungsentscheidungen“, sagte er. „Sie ist ein Multi-Millionen-Dollar-Business, das relevant bleiben, seine Fan-Basis aufbauen und Vertrauen zurückgewinnen muss.“

„Faith ist sauber“, sagt Jos Hermens, als er der Läuferin nach Mitternacht zu ihrem Olympiasieg gratuliert hat.

Die Leichtathletik müsse sich aus ihrem Tief herausarbeiten, wie es der Radsport getan habe, sagt der Athleten-Manager aus den Niederlanden. „Unser Sport ist sauberer als in den vergangenen Jahren. Alle Kenianer hier sind clean.“

Neben Faith Kipyegon vertritt er die Äthiopierin Almaz Ayana, die am Freitag den Doping-Weltrekord der Chinesin Junxia Wang über 10 000 Meter um 14 Sekunden auf 29:17,45 Minuten verbesserte.

„Das hat nichts mit Doping zu tun“, beteuert Hermens. „Die Chinesin lief wie ein Roboter, Ayana hat einen wunderschönen Stil. Ernährung, Schuhe, Bahn – wir sind in allem viel weiter als vor zwanzig Jahren. Außerdem hat die Konkurrenz Tempo gemacht, besser geht‘s nicht.“

Leichtathletik – eine Glaubensfrage.

Michael Reinsch, Rio de Janeiro in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Donnerstag, dem 18. August 2016

author: GRR

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