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05
2009

Manfred Ewald, Präsident des DTSB und Mitglied des Zentralkomitees der SED: "Ich war der Sport" - Die Idee von den vierzig Goldfavoriten war nicht abseitig

Olympia-Boykott 1984 – Risse im Bündnis – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

12. Mai 2009 Jeder Start ein Olympiasieg – die Sportführung der DDR plante bei den Sommerspielen von Los Angeles einen sensationellen Coup. Wenn sie im politischen Klima von Nato-Nachrüstung und sowjetischer Eiszeit schon nicht mit einer vollständigen Mannschaft würde antreten dürfen, so die Überlegung im innersten Zirkel, wollte sie die Sportwelt in jenem Sommer 1984 mit einem schlagkräftigen Kern des DDR-Sports schocken, mit dem zu hundert Prozent siegreichen Konzentrat ihrer Leistungsfähigkeit: Vierzig Athletinnen und Athleten sollten an den Start gehen, und jeder Einzelne würde eine Goldmedaille gewinnen.

Aus dieser Demonstration leistungssportlichen Größenwahns wurde nichts. Die DDR musste sich vor 25 Jahren, am 10. Mai 1984, wie der größte Teil des Ostblocks dem Olympiaboykott der Sowjetunion anschließen. Doch ihr Selbstbewusstsein war herausgefordert. Gerade erst, bei den Winterspielen von Sarajevo im Februar 1984, war der kleine Staat von knapp 17 Millionen Einwohnern mit neun Goldmedaillen die Nummer eins des Medaillenspiegels geworden; vor der Sowjetunion mit sechs und den Vereinigten Staaten mit vier.
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Die Idee von den vierzig Goldfavoriten war nicht abseitig
 

Mit dem oktroyierten Boykott, sagt der Historiker Hans Joachim Teichler von der Universität Potsdam, seien feine Risse im sozialistischen Bündnis entstanden; unsichtbar zunächst, doch fünf Jahre später barst der Ostblock. „Die DDR hat sich durch den Olympiaboykott sportpolitisch emanzipiert“, glaubt Teichler. Und Sportpolitik, das war große Politik in der DDR.

Die Idee von den vierzig Goldfavoriten war nicht abseitig. Schließlich verfügte der Deutsche Turn- und Sportbund (DTSB) der DDR über Siegertypen wie die Sprint-Weltmeisterinnen Marlies Göhr und Marita Koch, Weitsprung-Weltmeisterin Heike Dauthe (Drechsler), den zweimaligen Marathon-Olympiasieger Waldemar Cierpinski, Kugelstoß-Weltrekordhalter Udo Beyer, im Schwimmen die Olympiasiegerinnen Ines Geißler, Ute Geweniger und Petra Schneider sowie Weltmeisterin Kristin Otto, die Radrennfahrer Olaf Ludwig und Lutz Heßlich sowie die Olympiasieger und Weltmeister im Kajak, Birgit Fischer und Rüdiger Helm.

Da wusste Kluge, dass auch er nicht reisen würde
 

Volker Kluge, damals Sportchef des FDJ-Blattes „Junge Welt“ und Sprecher des Nationalen Olympischen Komitees der DDR, erinnert sich daran, dass er Anfang Mai 1984 von Wolfgang Gitter den Auftrag bekam, kurzfristig eine Mannschaftsbroschüre vorzubereiten, die statt der voraussichtlich rund 300 nur etwa vierzig Mitglieder vorstellte. „Keine Mannschaften, nur Top-Einzelstarter“ wollte der Generalsekretär des NOK, die Besten der Besten. Der Auftrag hatte sich schnell erledigt. Am 8. Mai, während IOC-Präsident Juan-Antonio Samaranch im Flugzeug nach Washington saß, wo er mit Präsident Ronald Reagan darüber beraten wollte, wie ein Boykott abzuwenden sei, kam die Absage aus Moskau.

Anfang April schon hatte der sowjetische Botschafter die Ost-Berliner Führung darauf vorbereitet. Kluge erfuhr vier Wochen vor der Nachricht im Fahrstuhl seines Verlages, dass Boris Stukalin, der Verantwortliche für Agitation und Propaganda in der KPdSU, fehlende Sicherheitsgarantien als Grund für ein Fernbleiben geltend machen wollte. Da wusste Kluge, dass auch er nicht reisen würde.

Die Bruderländer schlossen sich zähneknirschend an

Der Boykott war nicht in den Geplänkeln der Großmächte vor den Spielen begründet. Manfred Ewald, Präsident des DTSB und Mitglied des Zentralkomitees der SED, erinnerte sich in seinem kuriosen Gesprächsband „Ich war der Sport“ daran, dass die Sowjetunion ihn beim Boykott der Spiele von Moskau 1980 durch den Westen als Vermittler einsetzte: „Sie versuchten, mir ein hohes Maß an Verantwortung für das Verhalten der Westdeutschen aufzuladen.“ Marat Gramow – derjenige, der 1984 als Präsident des NOK der Sowjetunion öffentlich njet sagte – habe sich durch Engstirnigkeit hervorgetan. „Man gab mir als quasi Druckmittel auf den Weg, einen Gegenboykott der nächsten Spiele in Los Angeles anzudrohen“, schrieb Ewald. „Mir war damals klar, dass man sich revanchieren würde.“
 
Als es so weit war, schlossen sich die sozialistischen Bruderländer mit Ausnahme Rumäniens zähneknirschend an. Die Zeitungen der DDR führten die „ständige politische Einmischung der USA-Administration in die Vorbereitung der Olympischen Spiele und die wiederholte Verletzung der Olympischen Charta seitens der Organisatoren“ zur Begründung an. Dann folgte die fehlende Garantie für die Sicherheit der Teilnehmer der DDR.

Im Westen hatte der Olympiaboykott 1980 Widerstand ausgelöst

Birgit Fischer fragte daraufhin ihren Vorgesetzten im Armeesportklub Potsdam, ob sie nicht auf eigenes Risiko in Amerika starten dürfe. „Das war des Aufbegehrens genug“, sagt sie heute. „Ich bekam zu hören, dass ich wohl nicht verstanden hätte, was läuft.“ Kugelstoßer Udo Beyer, Mannschaftskapitän der DDR-Leichtathleten, musste beim Sportfest in Erfurt, das als Olympiaqualifikation geplant worden war, in strömendem Regen davon sprechen, dass die Entscheidung hart, aber gerechtfertigt sei. „Die Stimmung ist gut“, log er.
Rennkanutin Birgit Fischer: DDR-Meisterin schon 1980

Rennkanutin Birgit Fischer: DDR-Meisterin schon 1980

Im Westen hatte der wegen des Einmarschs der Sowjetunion in Afghanistan ausgerufene Olympiaboykott 1980 Widerstand bei den Athleten ausgelöst. Turn-Weltmeister Eberhard Gienger und Fecht-Mannschaftsolympiasieger Thomas Bach wurden politisiert; der eine ist heute Abgeordneter der CDU im Bundestag, der andere Vizepräsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), Gienger ist Vize des Präsidenten Bach im Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB).

„Wäre das Ende der sportlichen Laufbahn gewesen“

„Wir haben das einfach hingenommen, ohne etwas zu sagen“, erinnert sich Beyer, „das war die Erziehung der DDR-Athleten.“ Inneren oder gar ausgesprochenen Widerstand hat auch Olaf Heukrodt, damals Favorit im Canadier, heute Präsident des Deutschen Kanu-Verbandes, nicht bemerkt. „Hätte man sich parteilich geäußert“, sagt er, „wäre dies das Ende der sportlichen Laufbahn gewesen.“ Der Erfurter Schwimmer Frank Hoffmeister war der Einzige, der – noch im Mai bei einem Wettkampf in Rom – floh. Ansonsten herrschten Ruhe und Disziplin im DDR-Sport. Birgit Fischer erinnert sich: „Viele wurden mit Nachdruck gebeten, weiterzumachen und bei der Weltmeisterschaft 1985 zu zeigen, dass wir doch die Besten waren.“
Eine von 40 Goldfavoriten: Leichtathletin Marita Koch

Eine von 40 Goldfavoriten: Leichtathletin Marita Koch

Der Boykott stürzte nicht nur Sportlerinnen und Sportler, die sich monatelang, jahrelang geschunden hatten für den Start in Amerika, in Enttäuschung und Verzweiflung. Auch für die Staats- und Parteiführung war es ein herber Rückschlag, waren doch die Sportplätze der Welt ihr außenpolitisches Spielfeld. Dort rangen sie mit buchstäblich allen Mitteln darum, die Überlegenheit des Sozialismus zu beweisen, dort gewannen sie Respekt und Anerkennung. Was in Moskau die Propaganda-Abteilung entschieden haben mochte, war in Ost-Berlin ein Politikum höchsten Ranges. Wirkungsvoller als ein Boykott, klagte Ewald, wäre es doch, die amerikanischen Sportler bei Olympischen Spielen in Amerika zu besiegen. Er kannte das Rezept. Bei den Spielen von München 1972 hatte die DDR mit zwanzig Goldmedaillen den Klassenfeind in dessen Heimat distanziert. Die Bundesrepublik kam auf 13 Olympiasiege.

DDR-Sportführer Ewald lief Sturm gegen den Boykott

Ewald sah vier Jahre intensiver Vorbereitung ruiniert. Er und seine Helfer argwöhnten, dass die sowjetische Sportführung lieber boykottierte, als sich auch bei den Sommerspielen von der DDR besiegen zu lassen. 1976 in Montreal war die DDR-Auswahl den Sowjets mit 40:47 Goldmedaillen gefährlich nahe gerückt, und auch in Seoul 1988 sollte sie sich, erfolgreicher als das Team USA, auf Platz zwei als stärkster Herausforderer erweisen. In Los Angeles war das Aufgebot Kandidat für Platz eins. Doch Staats- und Parteichef Erich Honecker verlangte Gehorsam. Es ging auch um seinen Kopf.
Schwimmerin Kristin Otto: in Seoul alles nachgeholt

Schwimmerin Kristin Otto: in Seoul alles nachgeholt

Im Kalten Krieg hatten sich mit der Stationierung von Atomraketen in beiden Teilen Deutschlands die Fronten verhärtet. Die eigenmächtige Entspannungspolitik Honeckers sorgte für Argwohn und Ungeduld in Moskau. Durch die Wechsel der greisen Machthaber – im Februar 1984 starb Juri Andropow, der Nachfolger Breschnjews, und Gorbatschows Vorgänger, Konstantin Tschernenko, übernahm die Macht – erschien die Sowjetunion dogmatisch verhärtet und sogar für die Herrscher in der DDR gefährlich.

Die Spaltung der Olympischen Bewegung verhindern

Ewald und Genossen wussten, dass sie ihre internationale Bühne erhalten mussten. Honecker rangen sie das Versprechen ab, dass es einen solchen Boykott nie wieder geben werde. Gleichzeitig torpedierten sie die Pläne der Sowjets, zentrale Gegenspiele in Moskau zu veranstalten. Birgit Fischer und Heukrodt traten bei ihren „Wettkämpfen der Freundschaft“ in Berlin gegen die besten Kanuten der Welt an. Sieben weitere Länder, darunter Nordkorea und die Mongolei, wurden von den Diplomaten der DDR ins Spiel gebracht. Das Ziel der DDR deckte sich mit dem des IOC: die Spaltung der Olympischen Bewegung zu verhindern.

So eilig reisten Ewald und Rudi Hellmann, der Abteilungsleiter Sport im ZK, damals nach Moskau, dass sie nicht nur in der Mitgliederversammlung ihres NOK, sondern sogar in der offiziellen Meldung die einstimmige Abstimmung pro Fernbleiben vergaßen.

Zu dem westdeutschen IOC-Mitglied Willi Daume, Präsident des NOK für Deutschland, schufen erster und zweiter Boykott ein spezielles Verhältnis. Beide, Ewald und Daume, waren überzeugt davon, dass sie und ihre Sportler Opfer der kurzsichtigen Politik ihrer Schutz- und Besatzungsmächte waren. So entstand ein Gefühl von wenn schon nicht deutscher Einheit, so doch einer speziellen deutsch-deutschen Einigkeit.

Honecker hatte die Teilnahme an den Spielen von Seoul 1988 versprochen

Um seine sportlichen Klassenkämpfer bei Laune zu halten, ließ Ewald ihnen ihre Olympia-Ausstattung ausgeben. Ihre Erfolge prämierte er wie Olympia-Medaillen. Im Herbst nahm er die besten mit zu einer Kreuzfahrt nach Kuba. Die IOC-Session vom Juni 1985 in Ost-Berlin besiegelte den Bund des widerwilligen Boykotteurs DDR mit dem IOC. Samaranchs Lob dieser „Session der Einheit und Geschlossenheit“, die „bedeutsam für die Zukunft Olympias“ gewesen sei, war keine hohle Phrase. Honecker hatte dem IOC-Chef die Teilnahme der DDR an den Spielen von Seoul 1988 in die Hand versprochen – und hielt sich daran. Als später auf der Konferenz der kommunistischen und Arbeiterparteien in Moskau Fidel Castro für die Unterstützung der kommunistischen Trutzburg Pjöngjang durch den Boykott von Seoul warb, nutzte Honecker die Zögerlichkeit von Gorbatschow, um die Teilnahme der DDR anzukündigen. Das war ein Signal. Der Ostblock folgte.

Das IOC, dank der Fernsehgelder von Los Angeles wirtschaftlich genesen, präsentierte sich in Seoul stark wie noch nie. Den Olympischen Orden in Gold konnte es Honecker nicht mehr verleihen; das hatte Samaranch schon 1985 in Ost-Berlin erledigt – 13 Monate nachdem die DDR sich dem Boykott angeschlossen hatte.

Die Olympischen Spiele hatten ihre Stars zurück und die DDR ihre Bühne.

Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Dienstag, dem 12. Mai 2009

author: GRR

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