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02
10
2021

Horst Matznick in action - Foto: Bernd Hübner

Nie wieder auf Entzug – Persönliche Impressionen vom 47. BMW BERLIN-MARATHON 2021 von Horst Matznick (3. Platz, M80)!

By GRR 0

Nun ist alles gelaufen. Der 47. BERLIN-MARATHON ist der von gestern und morgen von vorgestern. Irgendwie war die Luft ähnlich wie bei der Bundestags- und Berliner Abgeordnetenwahl. So richtige Überraschungen blieben aus, die Plätze wurden, wenn auch knapp, wie die im Vorfeld von den Demoskopen bereits abgehandelten Quoten erreicht.

Bei unserem gemeinsamen Freudenfest, dem Marathon, einmal quer und im Kreisel durch Berlin waren naturgemäß unsere afrikanischen Laufbekannten (Äthiopier:innen und Kenianer:innen) quasi unter sich. Und auch der Versuch eines erneuten Weltrekordes blieb irgendwie und irgendwo stecken.

Nun ja, was sind das schon für Zeiten, die uns hier in Berlin mehrfach eben von der afrikanischen Gilde um die Ohren geschlagen wurden? 2:01:39 durch Eliud Kipchoge. Er lief diese Fabelzeit vor genau drei Jahren. Und, so behaupte ich, dieser Mann bleibt mindestens noch ein Jahrzehnt auf seinem Triumph sitzen. Fest steht sowieso, dass alles, was künftig an Sekundenbruchteilen unter diesem Rekord liegen wird, kaum zur Kenntnis genommen werden wird, liegt doch die Traumgrenze von „unserem“ amtierenden Weltrekordler seit dem gelungenen „Labor-Rennens“ durch den Wiener Prater (wer erinnert sich noch?) unter dem Knackpunkt von zwei Stunden (ich glaube bei 1:59:37), die jedoch natürlich keine offizielle Anerkennung fand (offiziell: Eliud Kipchoge – BERLIN-MARATHON 2018 in 2:01:39).

Die Spitzenlaufbetrachtungen spielten in diesem Jahr mit gelaufenen 2:05:45 (Guye Adola aus Athiopien) vor 2:06:14 (Bethwel Yegon aus Kenia) und schließlich der verhinderte Weltrekordler und falsch vorhergesagte Äthopien-Sieger Kenenisa Bekele mit 2:06:47 keine Rolle. Immerhin, der dreifache Äthiopien-Erfolg bei den Frauen 2:20 / 2:21 / 2:23 war nicht allein auf Rekord ausgerichtet, doch die ausgeglichenen Zeiten ließen erkennen, wer das Sagen in diesem Rennen hatte. Die zugewanderte Berlinerin Rabea Schöneborn ließ mit 2:28:49 auf Platz neun wieder an deutschen Nachwuchs glauben. Alles in allem, ein Aushängeschild für Berlin.

Nun aber zum Fußvolk, zu dem wohl alle Marathonläufer:innen jenseits des Drei-Stunden-Horizonts gehören: Sie alle sammeln Rennen, laufen mal hier, mal dort, nehmen Reisen und Kosten auf sich, nur um sich 42,195 KIlometer wettkampfmäßig zu messen, und zwar weltweit.

In Berlin sollen weit über einhundert Nationen im Teilnehmerfeld gewesen sein, und dies bei einer erheblich reduzierten Starterquote (statt 45. nur 25.000). Und nun mal ehrlich: Sind das noch diejenigen, die sich allein des Sportes und der Fitness wegen kasteien? Wer solche Fragen stellt, hat einfach keine Ahnung, wie es in der Seele der Marathonzugehörigen aussieht. Die Wahrheit allein liegt in der Tatsache, dass es eine Sucht ist, jawohl, eine gesunde Sucht, die deren Anhänger:innen zwar auch nicht länger leben, bekanntlich jedoch gesünder sterben lässt. Haha, ein uralter Joke, der immer noch eine gewisse Wirkung erzielt, zumal man selbst niemand davon überzeugen kann, sich freiwillig und gezielt einer Langstreckentortur zu unterziehen.

Und trotzdem, wer einmal auf den Trichter gekommen ist, die tausend Gründe des Laufens an sich zu probieren, wird bald merken, dass ödes Vor-sich-hin-laufen ein Fremdwort ist. Vielmehr sind die Glücksmomente unbeschreiblich, die ausgelöst werden, wenn nach lockerem Laufen Probleme plötzlich verschwunden sind, körperliche Hemmnisse sich langsam lösen und die Gemeinschaft eines Lauftreffs oder eines Sportvereins genau das bieten, was vielerorts nur gegen Bares zu haben ist.

Und wieder bin ich abgedriftet. Zurück zu uns, dem Fußvolk: Hübis Edelklub (LT Bernd Hübner) ohne Geschäftsbereich und Hierarchie verspricht nichts, bietet jedoch jeden Tag etwas an, was mit dem Laufen zu tun hat. So hat sich im Laufe der Jahre eine Gemeinschaft gebildet, die an der Idee der Ausdauer durch entspanntes, längeres Laufen nicht nur festhält, sondern immer wieder Anstöße zum sozialen Miteinander bereithält. Dabei ist die Teilnahme an Marathonläufen nur ein einzelner Vorschlag. Treffen, trainieren, beisammen sein, dann kommt vieles von selbst.

Der Berlin-Marathon ist ein Magnet und so kommt es nicht von ungefähr, dass weltweit das Interesse von Mal zu Mal steigt, an diesem unvergleichlichen Wettbewerb teilzunehmen. Wir wissen, Corona machte 2020 alle Marathonhoffnungen zunichte und auch 2021 schien gefährdet. Inzwischen ist allerdings eine Zeit erreicht, die wieder ein zumindest kulturelles und soziales Leben zulässt. Wir haben es erlebt, und zwar am 26. September 2021. Start zum 47. Berlin-Marathon 9:15/9:35/9:55 und 10:15 Uhr. Vier Wellen also. Es klappte hervorragend. Chipzeitnahme, so dass jede individuelle Zeit gemessen werden konnte. Alle fünf Kilometer wurden die Zeiten elektronisch gemessen, zudem bei Halbmarathon und schließlich bei Zieleinlauf. Auf ging`s.

Berlin ist ein schneller Kurs. Keine großen Steigungen, gutes Pflaster. Alles stimmte von der Betreuung, Versorgung und schließlich von der Stimmung her. Vom Wetter zu reden ist sowieso meist müßig, es passt so gut wie nie, denn es wurde warm. Einzig das Laufen, tatsächlich, jede(r) musste es selbst tun. Keine Abkürzung, immer auf dem Kurs und das Kilometer um Kilometer. Es ist eigenartig, je erfahrener und älter man ist, umso mehr müsste sich der Zustand von Aufgeregtheit verringern. Nichts davon stelle ich fest. Marathon ist wie richtige, aufrichtige Liebe. Wer einmal dabei ist, Blut geleckt hat, kommt so schnell nicht davon weg. Lebenslang eine Strafe? Lieben ist niemals Strafe.

Jetzt werde ich singulär, weil ich nur meine eigene Version schildern kann und nicht die von vielen, vielen bekannten Teilnehmer:innen. Nun, wie erging es mir? Bescheiden, es gibt auch ein anderes Wort dafür, wenigstens in der zweiten Hälfte. Emotional war ich auf voller Höhe, endlich war es wieder da, dieses unbeschreibliche Wettkampfgefühl, wenn auch in der Masse. Für wen laufe ich? Wieder so eine unsinnige Frage. Für mich natürlich und ein bisschen auch für all die Lieben, die bei Kilometer 22 und 28 geduldig am verabredeten Punkt warteten und begeistert sind, von denen, die sich redlich abmühen, das ersehnte Ziel zu erreichen, denn ich war ja einer von ihnen.

Aufhören, wenn`s weh tut? Aber nicht doch, die Pflicht, es unbedingt heute zu packen, war so groß, dass jeglicher Gedanke daran Verschwendung ist. Im Greisenalter angekommen, ist es auch kein übertriebener Ehrgeiz mit ausschließlichem Blick auf die ohne Erbarmen laufende Uhr, sondern einzig, diesen nach 42 Kilometer ominösen Zielstrich zu erreichen. Dabei hat die Berliner Strecke so viele echte Anziehungspunkte, die allein hier zu beschreiben Seiten füllen würde. Und in meiner Langatmigkeit und Phasen überbordender Begeisterung, wer weiß, wohin das führen würde… darum lassen wir das  –  vorerst.

Was aber ganz, ganz wichtig für alle an der Strecke ist, dass gerade sie diejenigen sind, die das unvergleichliche Flair ausmachen, den Läufer:innen Zuspruch, Begeisterung und manchmal sogar Zaubermittel verabreichen, damit auch sie das Gefühl haben, dabei zu sein. Es ist so, Akteure und Zuschauer bilden einfach eine unnachahmliche Symbiose, hautnah. So gesehen, trug mich das von „zu Tode betrübt“ bis wieder zum euphorischen „Himmelhochjauchzend“. „Horst, du schaffst das.“  Hat Angela M. in anderer Hinsicht auch gesagt  –  und es stimmte. Ein Wellental hat Höhen und Tiefen und so ist es um die Psyche von Marathonläufer:innen während eines Rennens bestellt.

Als der Kudamm (Kilometer 34/35) nahte, ging bei mir gar nichts mehr, ich sah nicht mehr links und rechts, nur noch geradeaus, selbst die schmissigen Samba-Bands vernahm ich nicht mehr. Bei Kilometer 36 stand dann meine mir zugeneigte Zauberin mit warmem Tee und Honig, ein Lebenselixier in dieser Situation. Nur noch sechs Kilometer – Kampfwandern/Laufen – Potsdamer Straße und -Platz, ein Kilometer Leipziger Straße, noch den  dreiviertel Gendarmenmarkt, Französische Straße, Glinkastraße, dann noch Unter den Linden und urplötzlich das Brandenburger Tor.

Es war zum Heulen schön. Dass die letzten Meter bis zum seligen Ziel wie ein Durchschreiten eines Wolkenmeeres sind, entspringt nicht meiner phantasievollen Eingebung, nein, es ist reinste Tatsache. Geschafft! Nichts konnte an diesem Tag schöner sein. Platz 3 (Bronze) bei den ältesten Säcken (M80), obwohl ich mit mir nicht zufrieden war. Selbst als ich hörte, dass Platz 1 an einen Ukrainer und Platz 2 an einen Österreicher ging und ich als Ansässiger deutsche Farben vertrat. Wenn alles stimmt, dann zolle ich Beiden Respekt. Zumindest der Erste ist zeitlich so weit weg, dass gewisse Zweifel aufkommen, ob er wirklich der AK 80 angehört.

Dennoch, was sagt man Außenstehenden bei der nicht zu vermeidenden Frage: „Und  –  wie schnell warst du?“ Ich nehme es mit den Amerikanern, die niemals danach fragen, sondern es flapsig-charmant ausdrücken: „You are finisher?“ Und du sagst nur ein schlichtes JA, dann kommt postwendend: „You are the greatest!“ Der bin ich zwar nicht, aber es schmeichelt.

Im Vertrauen: 5 Stunden 38 Minuten und 57 Sekunden: Nicht weitersagen, es war meine bisher schlechteste jemals gelaufene Zeit, ausgerechnet insgesamt im 70. vollendeten und 47. Berliner Marathon. Meine 2:54:55 das war Vorvorvorgestern, vor 33 Jahren. Der Depp konnte nicht aufhören und läuft noch heute.

Die Quintessenz von wegen Entzug: Wenn du fast zwei Jahre auf ein richtiges Marathon-Rennen verzichten musstest, dann konnte das nicht gut sein.

Darum: Nie wieder, oder? Nun macht Euch den Reim darauf.

Alles Gute!

Horst Matznick

author: GRR