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11
2025

Eine Rose für Viktoria Kolzer - Foto: Martin Ciesielski

Neun Kilometer mit 18 roten Rosen – Impressionen vom Erinnerungslauf am 9. November 2025 von Dr. Erdmute Nieke

By GRR 0

Der 9. November 2025 ist ein Sonntag. Um kurz nach neun Uhr finden sich an einem frisch-grauen Morgen acht Läufer:innen vor dem Eingang des Alten St.-Matthäus-Kirchhofs in Berlin-Schöneberg zusammen.

Ausgestattet mit 18 roten Rosen laufen wir unter einem Motto von Else Lasker-Schüler aus dem Jahr 1933 „Und meine Thränen liess ich in Berlin.“ durch den Nollendorf-Kiez.

Wir entdecken an 18 Orten jüdische und queere Geschichte mit Hilfe von Bildern und Geschichten. Wir hinterlassen an diesen Orten die roten Rosen.

Bereits in der Weimarer Republik war der Nollendorf-Kiez ein Hotspot queeren Lebens. Der Titel des diesjährigen (und fünften) Laufes zur Erinnerung an die Reichspogromnacht vom 9. November 1938 steht unter dem Thema: Jüdisch-queere Geschichten im Nollendorf-Kiez.

Eine Rose für Else Lasker-Schüler – Foto: Martin Ciesielski

Margot Holzmann, die mit ihrer Lebenspartnerin Marta Haluska als Tanzduo Pepita & Peter auftritt, geht eine Scheinehe mit einem chinesischen Kellner ein, um der Deportation zu entgehen. Weniger Glück hatte Heinz Riechert. Als sogenannter Mischling ersten Grades, taucht er mit zwei jüdischen Freunden in Berlin unter. Sie geben sich als Kriminalbeamte aus, werden gefasst, verurteilt und in Plötzensee enthauptet.

Der Münsteraner Kardinal Clemens August von Galen, der Prediger gegen die Euthanasie-Aktionen der Nationalsozialisten, war in den zwanziger Jahren Pfarrer an der katholischen Kirche St. Matthias am Winterfeldtplatz.

Eine Rose am Bauzaun für die Synagoge in der Passauer Straße – Foto: Martin Ciesielski

Am Geburtshaus der Literaturnobelpreisträgerin Nelly Sachs hinterlassen wir eine Rose und laufen zur Wohnung der Stillen Heldin Viktoria Kolzer, die Hanni Weissenberg versteckte, die so überleben konnte. Im gleichen Haus lebte die Jüdin Charlotte Charlaque mit ihrer Partnerin. Charlotte wurde als Curt geboren und unterzog sich als eine der ersten drei Personen einer geschlechtsangleichenden Operation. Sie konnte im Exil in den USA überleben. 1947 schreibt sie in einem Brief an ihre Freundin: „Hat das Volk drüben denn noch nicht eingesehen, was es gemacht hat, indem es den Barbaren 12 Jahre freien Lauf ließ?“

Die nächste Laufpause machen wir an der legenären Bar Eldorado, hier fanden 1000 Menschen Platz. Sofort im Jahr 1933 verboten die Nationalsozialisten das Eldorado und alle anderen Lokale, in den sich homosexuelle Menschen treffen konnten. 1931 trifft hier der Tennis-Star Gottfried von Camm den jüdischen Schauspieler Manasse Herbst, sie werden ein Paar. Diese Liebesgeschichte fand kein Happyend.

Die Gruppe bei einer Laufpause – Foto: Martin Ciesielski

Gegenüber vom Eldorado erinnert die Magnus-Apotheke an Magnus Hirschfeld, den Gründer des ersten Instituts für Sexualforschung. Er starb im Exil. Im Haus der heutigen Apotheke lebte Dora Richter. Sie gehört zu den ersten drei Männern, die die sich einer geschlechtsangleichenden Operation unterzogen haben. Alle drei Frauen wurden von Magnus Hirschfeld in seinem Institut angestellt.

Im Hotel Sachsenhof wohnte in der Dachkammer Else Lasker-Schüler. Nachdem sie 1933 auf der Straße verprügelt wurde, floh sie in die Schweiz und dann nach Jerusalem, wo sie 1945 starb. Auch für sie eine Rose. Else – wir erinnern uns an Deine Tränen, die Du in Berlin gelassen hast!

Eine Rose bekommt Wilhelmine Cruys, die als lesbische Frau, in Scheinehe mit einem jüdischen Rechtsanwalt lebend, das KZ Ravensbrück überlebt und nach dem Krieg vielen anderen Frauen aus Ravensbrück hilft, indem sie in ihrer Kosmetik-Firma Arbeit bekommen.

Eine Rose für Erwin Piscator an seinem ehemaligen Theater. Eine weitere Rose hinterlassen wir an der Gedenktafel Rosa Winkel am Nollendorfplatz.

Wir stoppen unseren Lauf für die berühmte Leichtathletin Lilli Henoch, sie lebte mit ihrer Mutter in einer Zwangswohnung in der Kleiststraße. Es war ihre letzte Wohnadresse vor ihrer Deportation nach – und Ermordung in Riga.

Eine Rose für Lilli Henoch – Foto: Martin Ciesielski

In der Passauer Straße bleiben wir vor eine Baustelle stehen. Hier befand sich von 1905 bis zum 9. November 1938 eine Synagoge. Eine Gedenktafel für diese Synagoge hat der Bauträger eingelagert und will sie nach Fertigstellung des Gebäudes wieder aufhängen. Wir hängen ein Foto der Gedenktafel und eine Rose an den Bauzaun.

Marlene Dietrich hatte in der Tanzbar Silhouette Freund:innen, die ihr das Kostüm für ihre Lolalola im „Blauen Engel“ ausliehen. Am Ort der ehemaligen Tanzbar hinterlassen wir eine Rose.

Die Schule Reimann war bis 1935 eine der wichtigsten und größten Kunstschulen. 20.000 Studierende wurden hier ausgebildet. Das jüdische Ehepaar Reimann eröffnete die Schule in London neu und rettete somit sich und anderen jüdischen Dozent:innen das Leben.

Herbert Zernik, jüdischer Kabarettist, Schauspieler, Sänger und Pianist floh nach Shanghai und überlebte. Am Ort seiner Wohnung, in der er bis zum Exil wohnte, hinterlassen wir eine Rose.

Unsere letzten zwei Rosen bekommt die lesbische und jüdische Malerin Gertrude Sandmann. Sie überlebt dank ihrer Freundin und einem guten Netzwerk versteckt in Berlin, nachdem sie einen Suizid vorgetäuscht hat. An ihrem Atelier und auf dem Kirchhof St. Matthäus hinterlassen wir die letzten roten Rosen. Nach jüdischer Tradition legen wir an Gertrudes Grabstele auch noch ein paar Regenbogen-Mamor-Steinchen ab.

Nach neun Kilometern sind wieder am Startpunkt des Erinnerungslaufes angekommen. Umgezogen und mit heißem Tee gestärkt, gehen wir gemeinam in das Cafe Finovo direkt am Friedhofseingang. Wir sitzen mit Kaffee und Kuchen in einer kleinen Dachstube des Cafes und sammeln eine Spende für die Neve Hanna Kinderhilfe e.V. https://www.nevehanna.de/, die israelische und palästinensische Kinder unterstützt.

Alle Teilnehmer:innen erhalten ein Heftchen, in dem alle Erinnerungsorte, die wir erlaufen haben, aufgelistet sind.

Mögen die Menschen, die wir unterwegs kennengelernt haben uns täglich daran erinnern, dass kein Menschen wegen seiner Religion oder seiner sexuellen Orientierung ausgegrenzt und diskriminiert werden darf.

Unsere Antwort an Charlotte: Nie wieder sollen Barbaren freien Lauf erhalten. Unsere Antwort an Else: Niemand soll seine Tränen in Berlin lassen und fliehen müssen.

Dr. Erdmute Nieke

https://lauffreude-berlin.github.io/

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