Mit dem Geist von Shaheen im Nacken: Lamecha Girma läuft über 3000 Meter Hindernis Weltrekord. - Foto: : KMSP / FFA
Neue Weltrekorde: Von realen und virtuellen Gegnern in der Leichtathletik – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Mit Hilfe von LED-Leuchten macht die Technologie „Wavelight“ das Rennen gegen die Zeit in der Leichtathletik sichtbar – und lässt Weltrekorde fallen. Das Ganze gibt dem Laufen eine neue Dimension.
Als Lamecha Girma während seines Weltrekordlaufes schwächelte, kam ihm so etwas wie eine Erscheinung zu Hilfe. Sie machte ihm Beine. So stark hatte er sich gefühlt im Rennen über 3000 Meter Hindernis, dass er den Tempomacher überholte. Dabei war dieser solide auf Weltrekord-Kurs.
Einige Sekunden nahm der zuversichtliche Läufer seinem Helfer ab, bis dieser ausstieg – Mission erfüllt. Und dann holten den Äthiopier auf dessen Weg über Hindernisse und Wassergraben erst Erschöpfung und dann der Geist von Said Saeed Shaheen ein. Das Publikum sah, wie eine Schlange aus blauen und grünen Lichtern, die am Innenrand der Bahn lange hinter Girma gelaufen war, dem einsamen Athleten auf der Gegengeraden immer näher rückte: die Indikatoren für das Tempo, in dem Shaheen 2004 lief, als er zu beweisen versuchte, dass er, der wegen seines Wechsels ins Nationaltrikot von Qatar ausgeschlossen war von den Olympischen Spielen in Athen, die wahre Nummer eins auf dieser Strecke war.
In Brüssel verbesserte er den Weltrekord auf 7:53.63 Minuten. In Paris machten ihn, der längst mit dem Laufen aufgehört hat und wieder in Kenia lebt, die LED-Leuchten präsent. Welch ein Eindruck: Über Zeit und und Raum hinweg maß sich Girma mit Shaheen.
Jeder sah die Lichterschlange
Der Herausforderer sah die Lichterschlange aus dem Augenwinkel: vorn die blauen Lichter, die den Platz des Tempomachers anzeigen, dahinter die grünen für den Weltrekord, den er schlagen wollte. Die lediglich 19.000 Besucher, die das Stade Charléty füllten, schrien, als werde Girma angegriffen. Jeder sah, wie sich die Lichterschlange am Boden ihm gefährlich näherte. Der Effekt war eindrucksvoll.
Der Körper Girmas straffte sich. Er flog in der Kurve über das vorletzte Hindernis, berührte mit dem grell-rosa Schuh an seinem rechten Fuß kaum das Wasser des Grabens und spurtete dem Geist Shaheeds auf der Zielgeraden auf und davon: zum neuen Weltrekord von 7:53,63 Minuten. Zwei, drei Meter hinter ihm liefen die Lichter, als er das Ziel erreichte. Von seiner Zuversicht und seiner Stärke sprach Girma nach dem Rennen. Ohne die Wavelight-Technologie, die das Tempo anzeigte, wäre ihm der Rekord vermutlich nicht gelungen.
Video: Youtube
Bei Faith Kipyegon, die wenige Minuten zuvor den Weltrekord über 5000 Meter auf 14:05,20 Minuten verbesserte, war es anders. Bei ihr war das System mit den LED-Leuchten auf eine Zeit knapp über Weltrekord eingestellt. Die äthiopische Weltrekordlerin Letesenbet Gidey war leibhaftig im Rennen. Als Kipyegon sie anderthalb Runden vor Schluss angriff, lag sie in der Marschtabelle für den Weltrekord etwa sechs Sekunden zurück. Zunächst schloss die kleine Kenianerin, scheinbar mühelos, zur Lichterkette auf, dann setzte sie zu einem langen Endspurt an, mit dem sie nach der realen auch die virtuelle Gidey deutlich hinter sich ließ.
„Ich hatte mich nur auf die grünen Lichter konzentriert, war entspannt und habe das Rennen genossen“, behauptete sie, die acht Tage zuvor, ebenfalls mit Hilfe der rasenden Lichter, den Weltrekord über 1500 Meter gebrochen hat. Der Norweger Jakob Ingebrigtsen verbesserte, auch sein Referenztempo auf der Bahn illuminiert, die Weltbestzeit über zwei Meilen (3218 Meter) auf 7:54,10 Minuten.
Seit 2020 verändert die Technologie von Wavelight die Leichtathletik. 13 Weltrekorde und Bestzeiten nennt das niederländische Unternehmen auf seiner Website; die vier jüngsten sind noch nicht nachgetragen. Älteste Referenz ist der norwegische Rekord über 1000 Meter, den Filip Ingebrigtsen bei den Impossible Games von Oslo lief.
Wavelight scheint die umstrittenen Balken, die bei Übertragungen vom Schwimmen Fernsehzuschauern das Weltrekord-Tempo veranschaulichen, in die Wirklichkeit zu übertragen. Es gibt auch Athleten Orientierung. Sie sind nicht mehr allein auf die Anzeige am Zielstrich angewiesen, die sie alle 400 Meter passieren, und auf den Trainer, der ihnen am anderen Ende des Stadions Zwischenzeiten zuruft. Das Rennen gegen die Zeit ist sichtbar geworden.
World Athletics hat die Technologie vor knapp drei Jahren in sein Regelwerk aufgenommen. „Unsere Beschäftigung ist Sport, unser Geschäft ist Unterhaltung“, sagt der einstige Rekordläufer Sebastian Coe, Präsident des Verbandes. Den Läufern biete die Anzeige Orientierung und Hilfe, beim Publikum sorge sie für Verständnis und Spannung. „Wir wollen Ergänzungen, die den Unterhaltungswert unseres Sports vergrößern. Tempomacher-Lichter sorgen für ein bisschen Aufregung, ein bisschen Bedrohung. Das braucht unser Sport.“
Die Entwicklung geht auf einen Einfall von Jos Hermens zurück. Für seinen Angriff auf den Stundenweltrekord 1976 stellte der Niederländer, heute einer der einflussreichsten Athletenmanager der Leichtathletik, an den Enden der Bahn Blinkleuchten auf. Helfer knipsten sie alle 68,5 Sekunden an. „Wenn ich sie leuchten sah, wusste ich, dass ich hinter dem Zeitplan lag“, erzählte Hermens: „Sah ich sie nicht, war es gut.“
So erreichte er die Konstanz, die notwendig war, den Rekord mit mehr als 52 Runden, 20,944 Meter, zu brechen. Der einstige 800-Meter-Europameister Bram Som und Hermens machten zunächst eine Trainingshilfe aus dem High-Tech-System von heute. Dann gaben sie dem Laufen eine neue Dimension.
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Montag, dem 12.6.2023