Die vier Damen vo der 4x400m Staffel - Foto: Theo Kiefner
Nach der EM München 2022– Zur Situation des DLV – Eine nüchterne Nachbetrachtung von Jürgen Mallow
Die Freude über die Erfolge und Leistungen unserer Athletinnen und Athleten ist rundum berechtigt. Ich freue mich mit ihnen und über sie. Die Begeisterung des Münchner Publikums war Rückenwind, die Zuschauer im Olympiastadion waren einer der großen Sieger der EM.
Wenn die Verantwortlichen für den DLV-Leistungssport jetzt die „schonungslose Analyse“ erarbeiten, die sie nach dem Desaster bei der WM in Eugene angekündigt haben, müssen zwei Aspekte dabei besonders gewichtet werden:
1. In welchem Maß hat das System der DLV-Leistungsförderung zum Erfolg beigetragen?
Einen großen Anteil am Erfolg haben die Arrivierten im Team (von Malaika Mihambo und Gina Lückenkemper bis zu Niklas Kaul und Julian Weber). Ein nicht unerheblicher Anteil ist aber auf die überraschenden Erfolge der Marathonmannschaften, der 4×400-m-Staffel der Frauen, von Lea Mayer und Saskia Feige zurückzuführen.
Es ist sicher nicht falsch, wenn wir den Hauptanteil an deren Erfolg nicht in der zentralen Leistungsförderung des DLV verorten, sondern bei ihren Heimtrainern.
Glückwunsch also an Beate Conrad und Thomas Dreißigacker, die man sicher nicht als Spezialisten für das Gehen bezeichnen darf. Glückwunsch an Kurt Ring, der mit Miriam Dattke, die er mit Doris Scheck persönlich trainiert, und Domenika Mayer aus dem erfolgreichen Team der LG Telis Finanz Regensburg, den Grundstein zum Mannschaftserfolg der Marathonläuferinnen legte.
Glückwunsch an die Trainer von Mona Mayer und Luna Thiel, die erst nach der Staffelausscheidung in Wattenscheid kurzfristig in das EM-Team berufen wurden. Glückwunsch an Tobias Kofferschläger, den Trainer von Lea Mayer.
Sie alle haben zwar auch in unterschiedlichen Anteilen (meist eher bescheiden) von der DLV-Förderung profitiert, aber der Hauptverdienst liegt bei ihren Heimtrainern und Vereinen.
Ja, da waren überall Trainerinnen und Trainer am Werk, deren Anteil am Erfolg man ganz einfach bewerten kann: „Glückwunsch, das habt ihr super gemacht!“.
Glückwunsch auch an die Staffeltrainer im DLV: alle vier Staffeln im Finale, das ist ein beachtliches Ergebnis, mit dem nicht unbedingt gerechnet werden konnte.
2. Wie ist das Ergebnis, gemessen an Medaillen und Platzierungen zu bewerten, wenn wir statt der Emotionen nüchtern vergleichen („Zahlen lügen nicht“)?
Die Diskussionen nach Eugene erfolgten auf der Grundlage der katastrophalen Ergebnisse bei Medaillen und Platzierungen sowohl bei den Olympischen Spielen 2021 als auch (wiederum verschlechtert) bei der Weltmeisterschaft 2022.
Deshalb ist es lohnend, die Ergebnisse bei der Heim-EM 2022 mit den Ergebnissen der beiden vorhergehenden Heim-EM 2002 und 2018 zu vergleichen. Sowohl 2002 als auch 2018 gab es noch keine Teamwertung im Marathonlauf, so dass die Goldmedaille der DLV-Frauen und die Silbermedaille der DLV-Männer unter strengen Maßstäben im Vergleich nicht berücksichtigt werden dürften.
In der Statistik für 2002 ist zu berücksichtigen, dass Russland und Weißrussland uneingeschränkt startberechtigt waren, 2018 starteten nur eine kleinere Zahl russischer Sportlerinnen und Sportler unter ANA, die insgesamt fünf Medaillen gewannen.
In München 2022 waren weder die russische noch die weißrussische Mannschaft zugelassen.
Die Bilanz des DLV in Zahlen:
2002 18 Medaillen, 38 Endkampfplätze, 181 Punkte (Platzierungen 1 bis 8)
2018 20 Medaillen, 39 Endkampfplätze, 196 Punkte (Platzierungen 1 bis 8)
2022 16 Medaillen, 44 Endkampfplätze, 197 Punkte (Platzierungen 1 bis 8)
Die Bilanz lässt sich in mancher Hinsicht noch weiter interpretieren. Das erspare ich mir.
Es ist die geringste Medaillenzahl (trotz der zwei Mannschaftsmedaillen im Marathon, die erstmals vergeben wurden), auch in der Punktzahl der Platzierungen ist es kein Zuwachs.
Laut sid vom 21.08. wird das historisch schlechte Abschneiden bei der WM weiterhin aufgearbeitet. Die „schonungslose Analyse“ ist wichtig und sollte nicht zu kurz greifen. Vieles muss auf den Prüfstand. Ich bin überzeugt, dass die Ursachen, die zu den schlechten Ergebnissen bei den Saisonhöhepunkten 2021 (Olympische Spiele) und 2022 (Weltmeisterschaften) geführt haben, nach wie vor bestehen.
Man sollte sich nicht durch die Ergebnisse der EM 2022 täuschen lassen: auch nach der erfolgreichen EM 2002 folgte 2003 und 2004 ein damals unerwarteter Absturz des DLV.
Jürgen Mallow