Erst Formkrise, jetzt der WM-Titel: Jelena Issinbajewa ©Victah Sailer
Moskau 2013 – WM-Stabhochspringerin Jelena Issinbajewa- Moskau wach geküsst – Thomas Hahn, Moskau in der Süddeutschen Zeitung
Die Russin Jelena Issinbajewa gewinnt Gold im Stabhochsprung und entfacht endlich Begeisterung unter den Zuschauern. Doch es ist nicht leicht, eine Königin zu sein. Nun legt die 31-Jährige erst mal eine Pause ein, um ein Kind zu bekommen – und wartet auf einen Heiratsantrag.
Es ist spät geworden im Luschniki-Stadion von Moskau. Die Medaillen-Entscheidungen sind gefallen, die Leichtathletik-WM ist wieder zur Ruhe gekommen, und doch ist es noch nicht Zeit, zu gehen, denn an der Stabhochsprung-Anlage steht eine Frau mit ihrem Stab und flüstert sich was zu. Jelena Issinbajewa aus Russland bereitet sich auf ihren letzten Versuch vor. Die Latte liegt auf 5,07 Meter, Weltrekord.
Jelena Issinbajewa hat das Gold sicher, mit 4,89 Metern hat sie die Amerikanerin Jennifer Suhr und die Kubanerin Yarisley Silva auf Platz zwei und drei verwiesen. Der erste Jubel über den Erfolg ist verhallt. Es war der emotionale Höhepunkt der WM in Moskau, als Jennifer Suhr ihren dritten Versuch über 4,89 vergab und Issinbajewa strahlend in die Kurve zu ihrem alten Trainer Jewgeni Trofimow rannte. Aber jetzt ist sie wieder ganz konzentriert. Alle Augen sind auf sie gerichtet, die Leute auf den Rängen warten gespannt.
Jelena Issinbajewa, 31, hat den Weltrekord dann nicht geschafft, aber das war auch gar nicht mehr wichtig. Es ging um Gold, um die Inszenierung eines besonderen Erfolgs und auch darum, diese WM wach zu küssen, die in den ersten Tagen vor schlecht besuchten Rängen ablief. Das hat alles geklappt, besser sogar als erhofft.
Denn Jelena Issinbajewa ist ja längst nicht mehr die Akkord-Weltrekordlerin, die sie mal war. Es gab eine Zeit, in der Issinbajewa ihre Disziplin derart dominierte, dass es fast langweilig war. 2004 in Athen wurde sie erstmals Olympiasiegerin, danach siegte sie praktisch nach Belieben, steigerte Zentimeter um Zentimeter den Weltrekord, überwand 2005 in London zum ersten Mal die magische Marke von fünf Metern und zog weiter ungefährdet ihre Runden. Bis sie bei der WM 2009 in Berlin mit Salto Nullo ausschied. Sie war damals eine gute Verliererin, tapfer erklärte sie jedem, der es wissen wollte, was passiert war. Aber danach wirkte bei ihr nichts mehr so leicht wie zuvor.
Man darf davon ausgehen, dass das Leben der Issinbajewa von außen immer schon leichter aussah, als es das in Wirklichkeit war. Jelena Issinbajewa ist eine emotionale Frau, ihre Freude kann sehr laut sein, und es ist ihr großes Verdienst, dass sie mit ihrer weltoffenen Art die Mauer zwischen der weiten Welt und den etwas verschlossenen Russen zumindest an manchen Stellen aufbrach.
Sie hat den Frauen-Stabhochsprung zum Hingucker gemacht, die US-Olympiasiegerin Jennifer Suhr sagt: "Wir müssen ihr dankbar sein dafür, dass sie uns den Weg dazu geebnet hat." Aber die Herausforderung, die ewige Weltrekordlerin zu sein, hat Issinbajewa durchaus auch belastet, zwischendurch sprach sie von "vielen persönlichen Problemen". Sie ging neue Wege, zog nach der WM 2005 von Wolgograd in die mondäne Welt von Monte Carlo, wechselte von ihrem Jugendcoach Trofimow zu Witali Petrow, der einst auch den ukrainischen Weltrekordler Sergej Bubka betreut hatte, sie trainierte in Italien und versuchte ihre tiefe, komplizierte, russische Seele in Balance zu bringen.
Als die Erfolge nicht mehr kamen, wie sie sollten, zeigte Issinbajewa Mut zur Auszeit. 2011 kehrte sie in die Heimat zurück, nach Wolgograd, und zu Trofimow. 2012 in London war sie immerhin Olympia-Dritte. Und nun das: Gold bei der Heim-WM. Nach der ganzen langen Geschichte, die davon erzählt, dass es nicht leicht ist, eine Königin zu sein.
Ihre "liebste Medaille"
Jelena Issinbajewa war ziemlich aufgekratzt nach ihrem Erfolg. Gegen Mitternacht erst kam sie zur Siegerpressekonferenz nach einem ersten kleinen Interview-Marathon, die anderen Medaillen-Gewinnerinnen waren da längst weg. Sie betrat den Raum mit erhobener Faust und einem spitzen Jubellaut und dann erzählte sie.
Sie nannte ihr drittes WM-Gold "meine liebste Medaille". Sie erinnerte an ihre Schwächephase nach Olympia. "Ich hatte keine Energie mehr, ich hatte keine Gefühle mehr." Sie dankte Trofimow, der sie behutsam aus dem Tief geführt hatte: "Er hat mich nie gedrängt, er hat mir zugehört." Sie sagte "ganz offiziell": "Er hat mich wiederaufgerichtet." Und sie sagte auch was über ihre Zukunft.
Auch deshalb hat die Menge den Auftritt der Issinbajewa in Moskau nämlich so gespannt erwartet: Weil nicht klar war, ob dieses Finale ihr Abschied werden würde. Im Hintergrund hörte man, wie die Finger der Stenografen über die Laptop-Tastaturen flogen, als Issinbajewa sagte: "Für den Moment nehme ich eine Pause für ein Baby. Und dann arbeite ich auf Olympia in Rio 2016 hin."
Sie rechnete ziemlich präzise vor, wie eine Mutterschaft zeitlich in ihre nächste Spiele-Kampagne passen soll ("… macht insgesamt ein Jahr und acht Monate"), wobei Issinbajewa in diesen Stunden nach dem großen Sieg fast ein bisschen zu emotional wirkte, um große Beschlüsse zu fassen. Ob sie ihre avisierten Auftritte bei den Golden-League-Meetings in Stockholm und Zürich wahrnehmen wird, darauf wollte sie sich jedenfalls noch nicht festlegen: "Mal sehen, ob ich weitermachen kann nach diesem Sieg."
Zwischendurch schien sich ihr Redefluss zu verselbstständigen. Es war fast, als rede sie mit sich selbst und versuche dieser Zukunft Konturen zu geben, die sie plant. Mutter sein, Ehefrau sein. Was das wohl bedeutet? "Ich glaube nicht, dass das Leben ohne den Sport so schön wird wie das Leben mit dem Sport", sagte sie, "ich werde nicht die gleichen Emotionen haben, ich werde nicht die gleichen Erfolge haben."
Sie wird eine ganz andere Issinbajewa sein als jene strenge, siegende, ausgelassene Issinbajewa, die das Leichtathletik-Publikum einst als Attraktion entdeckt hat. Wobei sie offensichtlich doch noch ein paar Rücksprachen zu halten hat vor der Familiengründung.
Jelena Issinbajewa lachte. Sie sagte: "Mir hat noch niemand einen Heiratsantrag gemacht."
Thomas Hahn, Moskau in der Süddeutschen Zeitung, Mittwoch, dem 14. August 2013