Misstrauen in die russische Seele – Warum Hammerwerfer Sergej Litvinov und der Deutsche Leichtathletik-Verband keine auf Dauer glückliche Beziehung eingehen konnten. Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
17. Juni 2010
BERLIN. Eigentlich haben beide die Trennung nicht gewollt. Trotzdem war sie unausweichlich. Im Scheidungsfall des Hammerwerfers Sergej Litvinov, Sohn des gleichnamigen Olympiasiegers und Weltmeisters, und des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) spielen eine Frau, ein Vater und unheilbares Misstrauen die entscheidenden Rollen.
Der Verband wollte nicht, dass Litvinov zwar für Eintracht Frankfurt startet und einer Sportfördergruppe der Bundeswehr angehört, aber monatelang in den Weiten Russlands verschwindet – und bei seiner Rückkehr auch noch aller Welt erzählt, wie locker es dort zugehe. Keiner einzigen Doping-Probe habe er sich seit November in Saransk stellen müssen, wohin sein Vater im vergangenen Jahr sein Trainingszentrum verlegt habe, erzählte der 24 Jahre alte Litvinov im Februar offenherzig dem Fachblatt "Leichtathletik". Die Botschaft war: Er sei gegen Doping, doch theoretisch sei dort alles möglich.
Das war der Anfang vom Ende der Liaison, die 2007 begann. Da war der blonde Jüngling noch bei der U 23-Europameisterschaft für Weißrussland gestartet. Da er wie seine Mutter auch die deutsche Staatsbürgerschaft besaß, bot er sich dem DLV an. Die Verbindung schien fruchtbar. Im vergangenen Jahr wurde Litvinov im deutschen Trikot Fünfter der WM in Berlin. Für die Europameisterschaft in Barcelona machte er sich spätestens zum Medaillenkandidaten, als er im Mai in Hengelo 78,98 Meter erzielte.
Doch da hatte schon das Misstrauen begonnen, die Beziehung zu zerstören. Die Bundeswehr stellte ihn nicht mehr frei zum Training in Russland, er musste Urlaub nehmen. Die Reisekosten trug er ohnehin selbst. Verein und Verband verlangten, dass er seinen Lebensmittelpunkt nach Deutschland verlege. Doch seine Frau Marina pflegt in Weißrussland ihre Mutter. Da sie im Gegensatz zu ihrem eloquenten Mann nicht Deutsch spricht, erhält sie nicht einmal ein Besuchervisum für Deutschland.
Der andere Fixpunkt in Litvinovs Leben ist sein Vater. Schon als Kind kämpfte der Junior um dessen Anerkennung und darum, in seine Fußstapfen treten zu können. In Frankfurt arbeitete er mit Bundestrainer Michael Deyhle, doch stets nach den Plänen seines Vaters. Die 102 Kilo, die er – eigentlich kein Schwergewicht – auf die Waage bringt, seien schwer erarbeitet, sagt er. Der beste Trainer der Welt, so nennt Litvinov seinen Vater, einen Revolutionär des Hammerwurfs. Gerade weil er nicht dope, argumentiert er, könne er auf dessen Training nicht verzichten. Als der DLV ihm zwei Trainingslager von je zwei Monaten in Russland einräumte, klagte der Junior: Wie solle er acht Monate ohne seinen Trainer auskommen?
Litvinov habe eine russische Seele, sagt Chefbundestrainer Herbert Czingon. Sportlich sei der Abschied ein Verlust. Menschlich ist er es womöglich auch. Doch die Loyalität von Litvinov bereitete dem Verband Kopfzerbrechen. In der weißrussischen Trainingsgruppe seines Vaters hat sich der junge Mann mit Ivan Tichon angefreundet. Als dieser und dessen weißrussischer Mannschaftskamerad Wadim Dewjatowski des Dopings überführt wurden, nachdem sie bei den Olympischen Spielen in Peking Bronze und Silber gewonnen hatten, sagte Litvinov, er sei geschockt, er sei gegen Doping. Aber Tichon bleibe sein Freund. Gut möglich, dass dieser bald ebenfalls in Saransk trainiert; sein Fall ist immer noch anhängig.
Noch bis Montag, so scheint es, verhandelten Litvinov und DLV über eine Lösung. Dann sei er ultimativ für Bergen nominiert worden, sagt Litvinov. "Ich hätte auch zusagen und mich später verletzt melden können. Aber ich spiele immer mit offenen Karten."
Litvinov hatte kein Geheimnis daraus gemacht, dass er für den Fall, dass seine Russland-Verbindung für den Verband nicht tragbar wäre, den Wechsel zum russischen Verband erwog. Allen Beteiligten war klar, dass die Unsicherheit, die Litvinov in Deutschland spürte, ihm den Einsatz in Bergen verboten. Denn der hätte seine Wechselsperre um ein halbes Jahr verlängert. Nun warf der Verband ihn aus dem Kader, da er wie erwartet den Start verweigerte. Ob er nun, von der WM 2009 an gerechnet, für ein oder drei Jahre bei internationalen Meisterschaften pausieren muss, hängt von den Verbänden ab. "Ich nehme alles in Kauf", sagt Litvinov. "Wenn ich in London nicht dabei sein darf, gewinne ich eben vier Jahre später die Olympia-Medaille."
Immerhin wird er nicht allein nach Saransk, 600 Kilometer südöstlich von Moskau, ziehen. Seine Frau braucht kein Visum für Russland, und beim Vater und an der Hochschule will Litvinov für seinen späteren Beruf als Trainer studieren.
Gegen das Misstrauen allerdings ist er machtlos. "Eigentlich müsste ich als Fünfter der WM doch öfter getestet werden. Ich will das ja auch", sagt er. "Aber seit April hatte ich in Deutschland nur eine einzige Kontrolle."
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Donnerstag, dem 17. Juni 2010
EN







