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2009

Was dann geschah, hat Owens später selbst geschildert. Er habe plötzlich eine Hand auf seiner Schulter gespürt und eine Stimme vernommen: „Hallo, ich bin Luz Long, was ist los mit dir? Du müsstest dich doch mit geschlossenen Augen qualifizieren können. Ich denke, ich weiß, was falsch ist an deinem Anlauf.

Mehr als Schwarzweiß – Doping, Wettskandale, Propaganda: Verliert der Sport seine Moral? Zeit sich an Jesse Owens und Luz Long zu erinnern. Michael Gernandt in der Süddeutschen Zeitung

By GRR 0

Der Sport ist in diesen Tagen nichts,  mit dem man sich unbedingt schmücken möchte. Zu allgegenwärtig ist das Thema Doping, zu häufig muss von Wettbetrug mit Fußballspielen berichtet werden. Auch schadet es seinem Ansehen, wenn Sportler und Sportlerinnen von Kommerzprofiteuren benutzt und von politischen Machthabern für ihre Propagandazwecke eingespannt werden.

Leicht wird in Anbetracht solcher Auswüchse verdrängt, dass man dem Sport nach wie vor eine Völker verbindende Kraft nachsagt. Menschen soll er zusammenbringen, die sich auf einem anderen Weg vielleicht nie kennen gelernt, nie ausgesöhnt, nie angefreundet hätten. 

Vielleicht war es gerade deshalb in diesem Jahr geboten, an eine Geschichte  zu erinnern, die sich vor mehr als 70 Jahren ereignet hat. Es waren nur zwei Menschen beteiligt, ein Schwarzer und ein Weißer, aber manchmal reicht das schon, um zu zeigen, dass der Sport tatsächlich Grenzen verschieben kann, Grenzen, die unverschiebbar erscheinen. 

Die Welt vor mehr als 70 Jahren.

Sie ahnte das heraufziehende Ungemach nur, als sie dieser Szene gewahr wurde, hätte sie es wissen müssen: Vorne weg der uniformierte deutsche Reichskanzler Adolf Hitler, von zwei Herren im Frack, dem belgischen IOC-Präsident Henri Baillet-Latour und dem deutschen IOC-Mitglied Theodor Lewald, in die Mitte genommen, dahinter in Mannschaftsstärke und Paradeuniformen die Paladine des Dritten Reichs von SS und Wehrmacht – dergestalt aufmarschiert schreiten die Honoratioren die breite Freitreppe über dem Marathontor im Berliner Olympiastadion herab.

Zur Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele 1936.

Jetzt hätte es gut ersichtlich sein müssen: Das Hochfest des Sports ohne Chance, der Ideologie der Nationalsozialisten zu entkommen. Das war gleich zu Beginn der Spiele die Botschaft derer, die in Überzahl von der Arena Besitz ergriffen. Und von der olympischen Idee, deren Werte sie den eigenen Dogmen unterstellten. Dass politische Machthaber die olympische Veranstaltung so ungeschminkt propagandistisch missbrauchten, war neu in der Geschichte Olympias.

In welchem Maße die Deutschen hinter dem Rücken des Internationalen Olympischen Komitees 1936 Regie führten, können zwei junge Mädchen kaum wissen, die 73 Jahre später an der selben Stelle, an der Hitler das Stadion betreten hatte, teilnehmen dürfen an der Siegerehrung für den Weitsprung der Männer bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft. 

Gleich neben dem Podest für die Medaillengewinner hatte 1936 das olympische Feuer gebrannt, dieses Symbol für den damals schon irrlichternden Sport. Die lodernde Flamme: Kaum anzunehmen, dass sie einer der Zuschauer, die heute ins Stadion gekommen sind, noch selbst hat betrachten dürfen. Es ist diesmal ein unübliches Zeremoniell, für gewöhnlich verbeugen sich vor den Besten hochmögende Menschen vom Sportverband und Sponsorenvertreter in feinem Tuch. Nun aber zusätzlich eine blonde Deutsche und eine schwarze Amerikanerin: Julia-Vanessa Long und Marlene Dortch.

Welche Bewandtnis es hat mit den jungen Frauen unterschiedlicher Hautfarbe wird erst deutlich, wenn man erzählt, wer ihre Großväter gewesen sind und was ihnen im August 1936 im Olympiastadion widerfuhr.

Dann erhält der außergewöhnliche Vorgang seine Schärfe, wird der Symbolcharakter der Medaillenfeier deutlich und das Geschehen in brauner Vorzeit ebenfalls. Die Ahnherren von Marlene Dortch und Julia-Vanessa Long – es sind James Cleveland Owens aus Cleveland/Ohio (die Initialen der Vornamen ergeben das allseits gebräuchliche Jesse) und Carl Ludwig („Luz“) Long aus Leipzig. Ihre Begegnung bei den Hitler-Spielen: eine einzigartige Provokation der Nazis, aber gerade deswegen ein Mythos der olympischen Geschichte.

Was ist geschehen in den frühen Augusttagen des vierten Jahres der NS-Diktatur?

Ein Rückblick, der schon im Mai 1935 beginnen muss. In Ann Arbor (US-Staat Michigan) erzielt der 21-jährige Student der Ohio State Universität Jesse Owens bei der Meisterschaft der „Big 10“ Universitäten des Mittleren Westens innerhalb von nur 70 Minuten vier Weltrekorde. Darunter 8,13 m mit einem einzigen Versuch im Weitsprung, eine Marke, die ein Vierteljahrhundert unerreicht bleibt.

Noch heute nennen die amerikanischen Sportfreunde den 25. Mai den „Day of the Days“. Owens` Sprint durch die Rekordliste ist ein Meilenstein der Leichtathletik und katapultiert den jungen, bis dahin nur national bekannten Athleten in den Orbit des Weltsports. 

Ein halbes Jahr später treten in Deutschland die so genannten Nürnberger Gesetze in Kraft. Sie machen die Juden zu Freiwild, und die schwarze Rasse wird im Vergleich zur arischen für minderwertig erklärt. Die NS-Presse nennt afro-amerikanische Sportler „Hilfstruppen der USA“. Als Reaktion auf das festgezurrte Rassendekret in Deutschland eskaliert in den USA die Auseinandersetzung über die Frage, ob der US-Sport die Olympischen Spiele in Berlin boykottieren soll. Nur mit falschen Versprechungen zum Olympiastart deutscher Juden gelingt es den Nazis, die amerikanische Olympiamannschaft nach Deutschland zu locken.

Vier Wochen bevor Team USA gen Europa abdampft läuft Owens in Chicago mit 10,2 Sekunden 100-m-Weltrekord. Jetzt steht außer Frage: Der Sport hat es mit einem Phänomen zu tun. Sein federleichter Laufstil, seine unglaubliche Überlegenheit in allen Disziplinen, die er bestreitet, rufen weltweite Bewunderung hervor.

Die Goldmedaillen in Berlin, wer will sie ihm streitig machen? 

Obwohl an Politik nicht wirklich interessiert, spricht sich Jesse Owens zunächst für den Olympiaboykott aus. Er kennt die Nöte drangsalierter Minderheiten nur zu gut. Großvater Owens verrichtete im „weißen“ Amerika noch Sklavenarbeit. Und leidet nicht auch seine Generation noch immer unter der Rassentrennung in den USA? Uni-Coach Larry Snyder stimmt den Enkel jedoch um, redet, in Unkenntnis der wahren Verhältnisse in Nazi-Deutschland, seinem besten Pferd im Stall ein, nicht Hitlers Regierung richte die Spiele aus, sondern Deutschland. Snyder bereitet Owens indes darauf vor, dass ihn die von der NS-Propaganda indoktrinierten Deutschen im Olympiastadion mit Eiseskälte empfangen könnten. Darauf möge er sich einstellen. 

Das Gegenteil tritt ein. Als Owens geschmeidig durch die Vorläufe des kurzen Sprints fegt, geht anfängliches Staunen der Stadionbesucher schnell in tausendfache Begeisterungsrufe über.
So viel majestätisch vorgetragene Geschwindigkeit haben sie hier noch nie gesehen. Sie skandieren „Je-sse O-wens, Je-sse O-wens“. Schon nach zwei Tagen haben die Spiele der Nazis ihr Idol. Unglaublich: Eines von schwarzer Hautfarbe. Auf der Ehrentribüne verhagelt es Hitler und seinen Parteibonzen die Stimmung. Die gleichgeschaltete NS-Presse kommentiert deshalb anderntags, Owens besäße „animalische Qualitäten“, ein Blatt stellt neben ein Owens-Foto die Aufnahme eines Affen. 

Der dritte Wettkampftag in Serie für Owens ist der 4. August.

Ein Mammutprogramm erwartet ihn: Vormittags Qualifikation für das Weitsprungfinale am frühen Abend, parallel dazu 200-m-Vorlauf und am Nachmittag Runde zwei für den langen Sprint. Das Wetter an diesem Dienstag behagt den Amerikanern nicht. Bedeckter Himmel, die Temperatur gesunken. 

Jesse Owens fühlt sich freilich nicht nur der äußeren Umstände wegen und des vor ihm liegenden Haufens Arbeit irgendwie verunsichert. „Wie ein Golfer, der plötzlich vom Yips befallen ist“, sei Owens „voller Ungewissheit“ gewesen, vermerkt der Owens-Biograf Jeremy Schaap in seinem Buch „Triumph – die bisher nicht erzählte Geschichte von Jesse Owens und Hitlers Spielen“.

Zusammen mit Larry Snyder beobachtet der Weitsprungfavorit vor der ersten Prüfung seinen Hauptrivalen: Luz Long.

Im Sprint war Owens konkurrenzlos. Aber vor diesem Deutschen, dem besten Europäer, empfindet er mit einem Mal Respekt. So wie der dasteht: Blondes Haar, blaue Augen, die Figur wie gemeißelt. Ein Typ ganz nach den Vorstellungen der dem Rassenwahn verfallenen NS-Fanatiker. Coach Snyder sagt: „Er sieht wirklich wie ein Nazi aus“. Owens, beeindruckt vom Selbstvertrauen, das der Sachse ausstrahlt, entgegnet: „Er sieht eher aus, als sei er in großer Form“. 

Snyder registriert die Verunsicherung seines Schülers und beruhigt ihn: „Nimm`s leicht. Du musst heute Morgen keinen Rekord springen“. Nur einen Meter weniger als am „Tag der Tage“ – lächerliche 7,15 m, die festgeschriebene Qualifikationsweite. Owens probt nun mehrmals seinen Anlauf und läuft zuletzt einfach über den Absprungbalken in die Sandgrube, so wie er das bei der Vorbereitung zu Hause immer macht. Da hält ihm ein Kampfrichter die rote Fahne vor die Nase: ungültiger Versuch. Owens versteht das nicht. Niemand hat ihm den offiziellen Beginn des Wettkampfs angezeigt. Was hilft`s, der erste von drei Versuchen: ohne Weite.

Bis heute ist die Situation nicht eindeutig geklärt, Unaufmerksamkeit von Owens oder bewusste Desinformation durch die Deutschen? Unklarheit auch über den zweiten Sprung: Übergetreten oder zu kurz gesprungen? Bei Schaap ist von nicht ausreichenden 7,09 m die Rede. 

Egal, vor dem letzten Sprung steht der haushohe Favorit mit leeren Händen da. „Die Situation war alarmierend“, vermerkt die New York Times. Schaap versucht Owens` Gedanken zu lesen: „Schon in der ersten Runde ausscheiden? Deshalb bin ich wirklich nicht hergekommen. Ich mache mich doch nicht zum Deppen“.

Was dann geschah, hat Owens später selbst geschildert. Er habe plötzlich eine Hand auf seiner Schulter gespürt und eine Stimme vernommen: „Hallo, ich bin Luz Long, was ist los mit dir? Du müsstest dich doch mit geschlossenen Augen qualifizieren können. Ich denke, ich weiß, was falsch ist an deinem Anlauf.
Warum ziehst du nicht einfach eine Linie mehrere Zentimeter vor dem Brett und versuchst von da abzuspringen. Du bist dann auf der sicheren Seite und kommst dennoch auf die verlangte Weite“.

Owens nickt, markiert die neue Absprungstelle, wie einige Zeugen des Dramas an der Grube beobachten, mit einem Handtuch seitlich der Anlaufbahn, läuft an, springt ab, ohne den Balken zu berühren: 7,62 m, weiter als die anderen. Erleichtert geht er zu Luz Long („Siehst du, so einfach ist das“), gibt ihm die Hand und sagt das einzige Wort, das er in Deutsch beherrscht: „Danke“.

Am Nachmittag das Finale. Owens ist jetzt wieder ganz bei sich, gewinnt mit einem Achtmetersatz nach großem Duell sein zweites Gold.

Silber für Luz Long. Der Deutsche ist der erste Gratulant. Wie ein Ringrichter beim Boxen reißt er den Arm des Siegers zum Zeichen der Entscheidung in die Höhe. Nach der Siegerehrung geht Long, der eingetragenes NSDAP-Mitglied ist, aber deshalb noch lange kein überzeugter Nazi, Arm in Arm mit Owens an Hitlers Loge vorbei.

Will Long die Machthaber provozieren? „Es brauchte sehr viel Mut“, sagt der Amerikaner, „um sich vor den Augen Hitlers mit mir anzufreunden. Man könnte all meine Medaillen und Pokale einschmelzen, aber sie könnten die 24-Karat-Freundschaft, die ich in diesem Moment für Luz Long empfand, kein bisschen goldener machen. Hitler muss wahnsinnig geworden sein, als er sah, wie wir uns umarmten“. 

Das Entsetzen in der Loge des Führers  angesichts der Verbrüderung zweier Athleten, die sich nach Meinung der NS-Ideologen nicht verbrüdern dürfen, man kann es förmlich spüren. Dass Hitler deswegen dem Mann aus Cleveland Gratulation und Handschlag verweigert, ist allerdings eine Mär, die lange unwidersprochen bleibt. 

In Wahrheit wird Hitler, nachdem er am ersten Olympiatag deutsche und finnische Sieger vor aller Welt empfangen und beglückwünscht hatte, eine zweite selbstgefällige Propagandaschau vom IOC untersagt. Nicht er sei schließlich Gastgeber im Stadion, sondern das olympische Komitee. Owens hat daraus keine Affäre machen wollen, wieder zurück in den USA sagt er:

„Nicht Hitler düpierte mich, sondern Präsident Roosevelt, er schickte mir nicht mal ein Glückwunschtelegramm“. 

Die Geschichte, die in einer Zeit zunehmender Verrohung der politischen Sitten mit einer auch unter Sportlern nicht selbstverständlichen Geste der Fairness begann, ist damit noch nicht zu Ende. Und sie wird, so man den emotionalen Auftritt von Julia-Vanessa Long und Marlene Dortch bei der Springerzeremonie dieses Jahres richtig deutet, wenigstens noch einer weiteren Generation erzählt werden.

Zunächst sei jedoch berichtet, wie es mit Owens und Long nach Olympia `36 weiterging. Aus den persönlichen Kontakten am 4. August und im weiteren Verlauf der Spiele im Olympischen Dorf entsteht eine mehrjährige Brieffreundschaft – die der Krieg am 14. Juli 1943 jäh beendet. 

An diesem Tag erliegt der im Abwehrkampf der Wehrmacht gegen die auf Sizilien gelandeten Alliierten schwer verwundete Obergefreite Luz Long, 30-jährig, in einem britischen Lazarett seinen Verletzungen. Erst 1950 entdeckt das Rote Kreuz das Grab des Leichtathleten auf einem US-Soldatenfriedhof in Acate (Sizilien). Longs letztes Schreiben an Owens hatte die Feldpost schon Wochen vorher an der nordafrikanischen Front auf den langen Weg nach Cleveland gebracht.

Es hat den folgenden Wortlauf: „Mein Herz sagt mir, dass dieser Brief der letzte meines Lebens ist. Wenn es so ist, möchte ich Dich um etwas bitten. Nach Kriegsende gehe nach Deutschland, finde meinen Sohn und erzähl` ihm von seinem Vater, erzähl` ihm von der Zeit, als der Krieg uns noch nicht trennte und wie es sein kann zwischen den Menschen dieser Erde. Dein Bruder Luz. 

Owens kann den letzten Willen des deutschen Freundes 1951 erfüllen. Er kommt mit dem Basketballteam der Harlem Globetrotters nach Deutschland und trifft Longs Sohn Kai in Hamburg.

„Ich habe“, berichtet der Amerikaner, der eine der vier Berliner Goldmedaillen seinem Konkurrenten zu verdanken hat, „Luz wieder gesehen. Im Gesicht seines Sohnes“.

Michael Gernandt in der Süddeutschen Zeitung, Sonnabend, dem 5. Dezember 2009          
                        

 

        

author: GRR

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