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07
10
2010

Nur neun Läuferinnen sind je die 400 Meter in weniger als 49 Sekunden gelaufen.

Marita Koch Für immer an ein System gekettet – Michael Reinsch, Berlin in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung – Ein Weltrekord für die Ewigkeit: Mit 47,60 Sekunden läuft Marita Koch im australischen Canberra über die Ziellinie

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47,60 Sekunden: Der 400-Meter-Weltrekord von Marita Koch wird 25 Jahre alt – und noch lange Bestand haben. Der Aufwand, den die DDR-Leichtathletin damals betrieb, war mehr als Training, mehr als Doping. Sie kämpfte stets auch für ihren Trainer.

Marita Koch feiert in diesen Tagen das Jubiläum ihres Modehauses in der Rostocker Innenstadt. Seit zehn Jahren ergänzt es ihr „Sporteck“. Man hätte von der einstigen Läuferin ein großes Fest erwarten können. Schließlich werden an diesem Mittwoch die 47,60 Sekunden 25 Jahre alt, mit denen sie das olympische Motto für den 400-Meter-Lauf obsolet gemacht hat.

Citius, fortius, altius – das gilt für Frauen auf der Stadionrunde nicht mehr. Beim Weltcup 1985 in Canberra scheint Marita Koch mit ihrem Weltrekord die Jagd nach dem Weiter, Stärker, Höher, nach dem nächsten Superlativ ein für allemal beendet zu haben.

Nur neun Läuferinnen sind je die 400 Meter in weniger als 49 Sekunden gelaufen. Marita Koch gelang das fünfzehn Mal. Den 47,60 ist in den 25 Jahren seitdem die Französin Marie-José Perec bei ihrem zweiten Olympiasieg, in Atlanta 1996 mit 48,25 Sekunden am nächsten gekommen. Für Sanya Richards, die schnellste 400-Meter-Läuferin dieser Tage, stehen vier 48er-Zeiten zu Buch, die beste von 2006 mit 48,70. Olympiasiegerin Christine Ohuruogu aus Großbritannien ist noch nie schneller als 49,61 Sekunden gelaufen.

Über das Thema Doping will sich Koch nicht äußern

„Noch ein bisschen stolz“ sei sie auf ihren Rekord, sagte Marita Koch, als die Deutsche Presse Agentur sie danach fragte. Das klingt so bescheiden, wie sie Zeit ihrer Karriere in aller Welt Sympathie gewann. Zu einem Gespräch mit dieser Zeitung ist sie nicht bereit. Die Berichte zum Zwanzigjährigen, als sie viele Interviews gab, seien so einheitlich und so einseitig auf Doping ausgerichtet gewesen, sagt sie; das wolle sie sich ersparen.

Der „vergiftete Rekord“

Diese 47,60 Sekunden, dieser „vergiftete Rekord“, wie ihn Ines Geipel genannt hat, dieses Mahnmal für das Wettrüsten, das vor 25 Jahren den Spitzensport in Ost und West pervertierte, ist für immer mit Marita Koch verbunden. „Manchmal denke ich, wäre ich bloß nicht diesen dämlichen Weltrekord gelaufen“, sagte sie vor der Leichtathletik-Weltmeisterschaft von Berlin. „Manchmal denke ich, eigentlich kannst du doch darauf richtig stolz sein.“

Zum Thema Doping scheint sie bis heute keine Haltung gefunden zu haben. Ihr Beharren darauf, dass sie niemals überführt wurde, beweist nichts, und ihre Interpretation der „Doping-Dokumente“ von Brigitte Berendonk und Werner Franke, in denen die hohen Anabolikadosierungen belegt sind, ist gleichfalls wenig überzeugend. Dort sei protokolliert, was ausgegeben wurde, sagte Marita Koch einmal. „Man hat versucht, sich dem zu entziehen, wie man konnte.“

Konnte man denn? „Ich habe Marita Koch nicht gefragt, ob ihre überragenden sportlichen Leistungen mit Hilfe von Doping zustande gekommen sind“, schrieb der frühere Hochspringer Paul Frommeyer, als er zum Zwanzigjährigen der 47,60 Sekunden – „neben Bob Beamons Weitsprung auf 8,90 Meter und Florence Griffith-Joyners zweifelhaften Rekorden über 100 und 200 Meter vielleicht das Spektakulärste, was es in der Leichtathletik je gegeben hat“ – Marita Koch begegnet war. „Warum (…) soll ich einen angenehmen Menschen in die Verlegenheit bringen, mir etwas zu erzählen, das nur ein Märchen wäre – vielleicht.“

Der frühere Athlet aus dem Westen hat verstanden, dass es nicht jedem möglich ist, eine Lüge eine Lüge zu nennen und Doping Doping. Der Deutsche Leichtathletikverband scheiterte mit seinem Versuch, die Rekordliste neu zu beginnen.

16 Weltrekorde in elf Jahren

Als Marita Koch an jenem 6. Oktober 1985 in Canberra im blauen Trikot der DDR antrat, triumphierte ihr Team. Zwölf von sechzehn Wettkämpfen gewannen die Athletinnen der DDR. Von ihrem Sieg über 200 Meter war Marita Koch enttäuscht, denn sie hatte ihren Weltrekord von 21,71 Sekunden nicht verbessert. Mit der Staffel sollte sie auch die 4 x 400 Meter gewinnen; die Sprintstaffel unterbot ohne Marita Koch den Weltrekord, den sie mit ihr aufgestellt hatte, in 41,37.

Zu Thanksgiving, dem Erntedankfest, wollte Marita Koch sich den Rekord über 400 Meter nehmen, als Krönung und Lohn für ihre Karriere. Sie war Olympiasiegerin, dreimal Welt- und vier Mal Europameisterin geworden (Stuttgart und ihre zwei Siege dort standen noch bevor). Sie war die erste Frau, die die 200 Meter unter 22 Sekunden gelaufen war (21,7), und die erste, die auf den 400 Metern 49 Sekunden unterbot (48,89). Sie hatte von den 50 Metern (6,11) bis zu den Staffeln 16 Weltrekorde aufgestellt in elf Jahren.

Der Olympia-Boykott des Vorjahres, oktroyiert von der Sowjetunion, hatte sie zwei, vielleicht drei Goldmedaillen gekostet und wohl auch Tränen. Nun sah sie sich im Herbst ihrer Karriere. Mit 28 Jahren wurde es Zeit, den Traum von Kind und Familie zu verwirklichen. Wolfgang Meier, seit 16 Jahren ihr Trainer, würde ihr Ehemann werden. Dass er und sie die Enge und den Mief der DDR für ein paar Tage hinter sich lassen und gemeinsam nach Australien fliegen durften, trotz des Misstrauens der Staatssicherheit und trotz der Missgunst des Apparates, war ein Triumph. Den wollte sie auskosten, indem sie ein Jahr, nachdem „ihre“ Olympiasiege der Amerikanerin Valerie Brisco-Hooks zugefallen waren, deren 48,83 Sekunden deutlich unterbieten würde.

Mehr als Training und mehr als Doping

Die kraftvollen ersten hundert Meter, die Gegengerade, auf der sie auf Bahn zwei an ihren Gegnerinnen vorbeizieht, als habe sie immer noch einen kürzeren Weg, die enge Zielkurve, aus der sie mit unfassbarer Geschwindigkeit auf die Zielgerade stürmt, nicht nachlässt und erst auf den letzten fünf, sechs Metern den Kopf nach hinten legt, bevor sie sich ins Ziel wirft – dies war der Lauf, der jede Herausforderung abschmettern und jede Diskussion beenden sollte. 47,60 Sekunden.

„Ich weiß echt nicht, wie es weitergeht“, behauptete sie nach dem Lauf und deutete doch den Abschied an, zu dem sie entschlossen war: „Mein Medizinstudium kostet viel Zeit und Arbeit, und ob ich mich noch einmal motivieren kann, ein Jahr lang für die Europameisterschaft im nächsten Jahr in Stuttgart all den Aufwand zu treiben…“ All der Aufwand: Das war mehr als Training und mehr als Doping. Marita Koch kämpfte stets auch für Wolfgang Meier.

In Wismar waren sich das spindeldürre Lauftalent und der sportbegeisterte Schiffbauingenieur begegnet. Sie war zwölf, er 27 Jahre alt. Fünf Jahre später schickte der Sportclub Empor Rostock, zu dem sie hatte wechseln dürfen, die junge Frau als gescheitert zurück. Das war die erste gemeinsame Herausforderung. Als sie zum zweiten Mal nach Rostock ging, diktierte sie: nur mit Meier. Wer das Training der beiden beobachtete, beschreibt es als brutal: die berüchtigten Sprints mit einem Autoreifen im Schlepptau, die Tempovorgabe durch Glühbirnen an der Trainingsbahn, die Arbeit an den Kraftmaschinen, alles in endlosen Wiederholungen.

47,60 Sekunden

Niemand anders als Marita Koch hätte diese Marter ausgehalten. Denn so funktionierte die Symbiose: Der Autodidakt Meier brachte Partei und Establishment des DDR-Sports mit unkonventionellem Handeln und provozierenden Reden gegen sich auf. Die Athletin tat alles, um ihn durch Leistung zu schützen. Jahrelang ertrug sie ein Reiseverbot, das ihm galt. Sie brach den Kontakt zu ihrer Verwandtschaft im Westen ab, um die Stasi zu beruhigen. Sie ließ sich vom staatlichen Sportverband sagen, dass später immer noch Zeit für Kinder sei. Und sie stand durch, was er im Training von ihr verlangte.

Die 47,60 Sekunden sollten den Schlusspunkt ihrer Karriere setzen, den Schlussstein des Fundamentes für ein Leben danach. Es kam anders. Manfred Ewald, der Herrscher des DDR-Sports, bestand darauf, dass sie bis zu den Olympischen Spielen von Seoul 1988 weitermacht. Nach der Europameisterschaft von Stuttgart 1986 kam es zum Bruch. Die Freiheit der Marita Koch von Sport und Fron begann zweieinhalb Jahre vor dem Fall der Mauer, im Frühjahr 1987.

Und doch scheint sie, schweigend, für immer an das Sportsystem gekettet zu sein, das seit zwanzig Jahren nicht mehr existiert. Durch 47,60 Sekunden.

 Michael Reinsch, Berlin in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Mittwoch, dem 6. Oktober 2010

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