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17
11
2010

"Ich wünschte, ich hätte nie gelogen", schreibt sie nun. Damit provoziert sie all jene, die argwöhnen, Jones fahre "fort, nur die halbe Wahrheit über ihre Dopingvergangenheit zu erzählen"

Marion Jones – Kreuzzug für Halbwahrheiten – Michael Gernandt in der Süddeutschen Zeitung

By GRR 0

Marion Jones kämpft gegen die bösen Geister ihrer Vergangenheit: Die verurteilte Dopingsünderin präsentiert sich mit ihrem zweiten Buch als widersprüchliche Person – und als ein Opfer des Kommerzsports.

Aufregende Tage hat Marion Jones in ihrem Leben weiß Gott genug gehabt. 18 Jahre lang hält der Stress an: während der glorreichen Zeit als weltweit bewunderte Königin des Sprints, dann die Balco-Dopingaffäre, Lügen, der Bankrott, die Verurteilung, die Haft, Entlassung, Aberkennung der fünf Olympiamedaillen, Geburt ihres dritten Kindes, Versuch der Rehabilitierung, Comeback als Basketballerin in Tulsa. Und es hört nicht auf.

Bis zuletzt, ein öffentlicher Termin nach dem anderen: einstündiges, ins Internet gestelltes Interview mit der US-Nachrichtenagentur AP, Veröffentlichung ihres zweiten Buchs ("On the right Track"), Auftritt bei ABC in Good Morning America und am 2. November TV-Premiere von Marion Jones: Press Pause, dem Film des 1991 für den Oscar nominierten Regisseurs John Singleton (für "Boyz in the hood") im Rahmen einer ESPN-Serie.

Zwei Dutzend Sportler waren in die Affäre um die kalifornische Dealer- Zentrale Balco verwickelt, längst sind sie abgeurteilt und aus den Medien verschwunden. Selbst Barry Bonds, der betrügerische Homerun-Rekordler im US-Nationalsport Baseball, findet kaum noch Erwähnung.

Was also steckt dahinter, wenn Marion Jones, 35, die ihr Geld einst in der Leichtathletik verdiente, in einer Disziplin, die in den USA eher am Rande interessiert, immer noch der große Auftritt gestattet wird? Es dürfte ein vielen Amerikanern immanentes Bedürfnis sein, nicht nur den Aufstieg des Tellerwäschers als landestypische Lebenslinie zu bewundern, sondern auch die Fallhöhe gestrauchelter Hochmögender mit lüsterner Neugier nachzumessen.

Der Mordfall O.J. Simpson, Football- und Hollywoodstar, ist noch gut in Erinnerung. Auch Marion Jones entspricht dem Muster: Vom Covergirl der Vogue, dort das erste des Sports, abgelichtet von Starfotografin Annie Leibovitz, zum Häftling Nr. 84868-054 im Frauen-Bundesgefängnis Carswell in Forth Worth, verurteilt wegen Belügens der Strafverfolger.

Zuneigung entwickeln sie in den USA zu jenen Typen, die niedergestreckt wurden und versuchen, wieder aufzustehen. Genau daran arbeitet Jones mit missionarischem Eifer, seit sie auf freiem Fuß ist. Mit großer Eloquenz und ihrem "Millionen-Watt-Lachen" (Chicago Tribune) führt sie einen Kreuzzug gegen die bösen Geister ihrer Vergangenheit. "Vom olympischen Absturz zur Suche nach Vergebung und der Kraft zu Überwinden", lautet der Untertitel von "On the right Track". Sie hat das Buch sechs Jahre nach "Life in the fast lane" auf der Basis von Briefen aus dem Gefängnis an Ehemann und Kinder verfasste.

Der Titel scheint bewusst ausgewählt zu sein, insinuiert er doch, die schnelle Bahn, die sie bis 2002 benutzte, sei falsch gewählt, erst jetzt befinde sie sich "auf dem rechten Weg". An einer Stelle des Buchs gerät die Argumentationsoffensive zur Wiederherstellung ihres Rufs jedoch in den Hinterhalt – Zweifel an der Aufrichtigkeit all ihrer Beteuerungen sind angebracht.

Es ist die Passage, die beschreibt, wie sie sich entschied, die Ermittler zweimal zu belügen. Die Lügen: nicht gewusst zu haben, dass ein von ihrem Ex-Lebenspartner Tim Montgomery auf sie ausgeschriebener Wechsel aus einem Scheckbetrugsfall stammte. Wegen dieser Unwahrheit wurde Jones im Januar 2008 in White Plains zu sechs Monaten (inklusive 48 Stunden Einzelhaft nach einer Prügelei mit einem Häftling) verurteilt – und nicht, weil sie vor Gericht auch noch gestanden hatte, 2003 gegenüber Ermittler Jeff Novitzky gelogen zu haben, als dieser fragte, ob sie gedopt habe. Wegen Dopingvergehens muss ein Sportler auch in den USA nicht ins Gefängnis.

"Ich wünschte, ich hätte nie gelogen", schreibt sie nun. Damit provoziert sie all jene, die argwöhnen, Jones fahre "fort, nur die halbe Wahrheit über ihre Dopingvergangenheit zu erzählen" – so hat sich Victor Conte, Ex-Balco-Chef, jahrelang Drogenlieferant und Berater von Jones, gegenüber einem Internetdienst geäußert. Von Halbwahrheiten beim Thema Doping hatte schon Richter Karas beim Prozess in White Plains gesprochen. Conte sagt weiter: "Traurig, dass sie noch nicht gestanden hat, wissentlich Drogen genommen zu haben, dass sie behauptet, falsch informiert worden zu sein. Marion rät Kindern, zu denken bevor sie lügen oder betrügen. Ich wünschte, sie hielte sich selbst an ihren Ratschlag."

Auch der ESPN-Film von Singleton zerstreut den Argwohn nicht. Die Wahrheit werde weiter nicht erzählt, schrieb die renommierte Chicago Tribune am Premierentag. Schon zu einem früheren Zeitpunkt hatte das Blatt vermutet, Jones könnte eine "pathologische Lügnerin" sein und gefragt, ob sie wirklich nur, wie zugegeben, vom 1. September 2000 bis Juli 2001 gedopt habe, um sich bei den Spielen in Sydney über die Holländerin Fanny Blankers-Koen zu erheben, deren vier Goldmedaillen von 1948 das Nonplusultra in der Frauenleichtathletik sind.

Was war 1997 und 1999, als Jones 100-m-Weltmeisterin war? Damals passierte sie alle Kontrollen unbeanstandet – wie 2000 in Sydney.
 
Gute Gründe Doping der Ausreden

Regisseur Singleton hat Jones eine Person genannt, "die mehr als andere ein Symbol ist für die Entwicklung des Sports". Er hätte sie auch ein Opfer nennen können, verführt von dem System Kommerzsport.

Michael Gernandt in der Süddeutschen Zeitung, Mittwoch, dem 3. November 2010

author: GRR

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