2015 TCS New York City Marathon Weekend New York City, New York November 1, 2015 Photo: Andrew McClanahan@PhotoRun vicath1111@aol.com 631-291-3409 www.photorun.NET
Marathonland USA – Jürg Wirz
Griechenland gilt als Wiege des Marathonsports. Das Mutterland des Marathons als Massenbewegung ist aber Amerika. Die Vereinigten Staaten haben auch 2015 ihre Stellung als Marathon-Mekka zementiert, nicht nur mit New York als Nonplusultra der Szene.
Mit New York, Chicago, Boston, Honolulu und Los Angeles sind fünf der zehn grössten Marathonläufe auf amerikanischem Boden. Gemäss „Running USA" gab es im letzten Jahr mehr als 550 000 Amerikanerinnen und Amerikaner, die sich Marathon-Finisher nennen konnten, 1976 waren es noch 25 000 gewesen.
Was ebenso beeindruckt: Der Frauenanteil hat im Laufe der Jahre auf 43 Prozent zugenommen. Chicago bringt es auf 46 Prozent; an mehreren Orten, so in Orlando, Portland und Napa, sind bereits mehr Frauen als Männer am Start. Zum Vergleich: Berlin hatte letztes Jahr 24,2 Prozent Frauen, London 38,2, Paris 23,8.
Der Lauf zwischen Lust und Leid hat in den USA eine grosse Tradition.
Ein Jahr nach den ersten Olympischen Spielen 1896 führte Boston bereits einen Marathon durch. 15 waren am Start, zehn kamen ins Ziel. Seither fand der mit Abstand älteste Marathon der Welt jedes Jahr statt, nur im Kriegsjahr 1918 ersetzt durch ein Staffelrennen für Armeangehörige. Ursprünglich war das Rennen Männern vorbehalten, erst 1966 mischte sich mit Roberta Gibb die erste Frau – inoffiziell und ohne Startnummer – unter die Läufer.
Ein Jahr später nahm Kathrine Switzer teil, sie hatte sich als «K. V. Switzer» angemeldet und keinen Hinweis auf ihr Geschlecht gegeben.
Während des Marathons versuchte Renndirektor Jock Semple vergeblich, sie mit Gewalt von der Strecke zu entfernen. 1972 durften Frauen in Boston offiziell teilnehmen. New York gibt es seit 1970 – damals mit 126 Männern und einer Frau, die allerdings nicht ins Ziel kam -, Chicago seit 1977, lässt man die ersten Versuche von 1905 bis in die frühen 1920er Jahre beiseite.
Lange Zeit war den Amerikanern im besten Fall die Existenz des Boston-Marathons bekannt, aber nur wenige hatten das Bedürfnis, diesen „Extremsport" selbst zu versuchen. Es brauchte Frank Shorters Olympiasieg 1972 in München und die damit verbundende Publizität, um das Phänomen auszulösen, das als „Running Boom" in die Geschichte eingehen sollte.
Jim Fixx schrieb 1977 das Buch „The Complete Book of Running", von dem in kurzer Zeit mehr als eine Million Exemplare verkauft wurden und das die Joggingbewegung auf Touren brachte. Daran änderte auch nichts, dass der frühere Kettenraucher und arteriosklerotische Fixx im Juli 1984 mit 52 Jahren an akutem Herzversagen starb – beim Laufen.
Acht Olympia-Medaillengewinner
Die Amerikaner stellten von 1904 bis 1924 acht Olympia-Medaillengewinner im Marathon, mit Thomas Hicks (1904) und John Hayes (1908), er nach der Disqualifikation des Italieners Dorando Pietri, sogar zwei Olympiasieger. Danach gingen sie 48 Jahre leer aus. Inzwischen ist die USA nur noch das Land der Massenbewegung.
Die amerikanischen Läufer spielen im internationalen Vergleich keine Rolle, jedenfalls die Männer nicht. In der Weltrangliste 2015 ist kein einziger Ami unter den ersten 100 zu finden, der beste ist Luka Puskedra auf Rang 157 mit 2:10:24 Stunden. Meb Keflezighi, der Olypiazweite von 2004 mit eritreischen Wurzeln, ist in zwischen 40 Jahre alt, Dathan Ritzenhein und Ryan Hall, beide 33-jährig, von denen die Amerikaner viel erhofften, waren zuletzt immer wieder verletzt.
Unter den ersten 100 in der Weltrangliste 2015 befinden sich 59 Kenianer und 31 Äthiopier, in den ersten 20 Rängen gar nur Läufer aus Ostafrika. Was auffällt: Die Äthiopier haben zugelegt. Fünf Jahre zuvor waren 68 Kenianer und 17 Äthiopier unter den ersten 100 und unter den ersten 20 ausschliesslich Kenianer.
Der Mann, der diese Entwicklung vorantrieb, trägt einen italienischen Namen: Renato Canova.
So wie einst Landsmann Gabriele Rosa in Kenia zu Beginn der Neunzigerjahre, war er es, der sein erprobtes Trainingsprogramm nach Äthiopien brachte. Canova hat zwei Coaches, die für ihn arbeiten und wöchentlich Bericht erstatten. Zur Gruppe gehört Kenenisa Bekele und das angeblich erst 20-jährige Wunderkind Tsegaye Mekonnen. Mekonnen lief beim Sieg 2014 in Dubai eine Zeit von 2:04:32. Er ist ein Vertreter der neuen Generation, die nach einer kurzen oder gar keiner Bahnkarriere zum Marathon wechseln, weil nur dort gutes Geld zu verdienen ist, so wie schon die Weltrekordläufer Patrick Makau, Wilson Kipsang und Dennis Kimetto.
Allerdings vermochte Mekonnen im vergangenen Jahr noch nicht wieder an die Leistung von Dubai anzuknüpfen. Sein Manager Gianni Demadonna ist davon nicht überrascht: «Wenn einer kein Geld hat und dann auf Anhieb 200 000 Dollar gewinnt, ist es für jeden schwierig, die Konzentration zu behalten.» Was es heisst, dass auf der Bahn – wenn man nicht Mo Farah heisst – nicht das grosse Geld zu machen ist, zeigt ein anderes Beispiel aus dem «Stall» von Demadonna: Jairus Birech gewann 2014 alle Hindernisrennen der Diamond League-Serie und auch die Gesamtwertung, hatte am Ende des Jahres nach Abzug der Steuern und Manager-Prozente aber keine 100 000 Dollar auf seinem Konto.
Zuerst eine Karriere auf der Bahn?
Aber es gibt auch noch jene, die wie einst Paul Tergat oder Haile Gebrselassie, dem alten Muster folgen und zuerst auf der Bahn für Furore sorgen. Ein Beispiel ist Bekele, ein anderes Eliud Kipchoge. Zwölf Jahre nachdem er in Paris den WM-Titel über 5000 Meter geholt hatte, dominiert der Kenianer jetzt den Marathon.
Und hätte er in Berlin nicht schon nach wenigen Kilometern mit herausgerutschten Innensohlen kämpfen müssen, wäre Dennis Kimetto kaum mehr der Weltrekordhalter. Doch für Kipchoge ist aufgeschoben nicht aufgehoben. In Rio hat er den Olympiasieg im Visier und 2017 möchte er nach Berlin zurückkehren.
Dann ist der Mann, der als einer der wenigen Kenianer seit eh und je ein Trainingstagebuch führt, noch nicht 33 und immer noch im besten Marathonalter. Eliud Kipchoge glaubt, dass die Grenze im Marathon noch lange nicht erreicht ist und die zwei Stunden in den nächsten Jahren geknackt werden: «Zweimal ein Halbmarathon in 59:50 Minuten ist nicht unmöglich.»
Die Entwicklung geht immer weiter. Beim Marathon als Massenereignis wie auch an der Spitze.
Die grössten Marathonläufe
(Zahl der Finisher)
50 403 New York 2014
40 601 Chicago 2014
40 262 Paris 2015
37 644 London 2015
36 820 Berlin 2015
35 868 Boston 1996*
34 097 Tokio 2014
28 076 Osaka 2014
21 924 Los Angeles 2015
21 814 Honolulu 2014
Anmerkung: Die meisten grossen Marathonläufe haben Teilnahmebeschränkungen
*Jubiläum 100 Jahre Boston-Marathon
Jürg Wirz in LAUFZEIT&CONDITION 3/2016
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