Kathrine Switzer im Sportmuseum Berlin - vor ihrer eigenen Geschichte ©Horst Milde
Marathon – Laufend Barrieren einreißen – Michael Reinsch, Berlin
„Ein Witz“, findet Irina Mikitenko. „Man hält die Regeln ein, erzielt eine gute Leistung, und acht Jahre danach kommen sie und nehmen einem das Ergebnis weg.“ Die Bestzeit der besten deutschen Marathonläuferin von 2:19:19 Stunden soll im nächsten Jahr abgewertet werden, weil Irina Mikitenko sie beim Berlin-Marathon erzielte, bei dem Männer und Frauen zugleich laufen.
Paula Radcliffe, die schnellste Marathonläuferin der Welt, soll sogar ihren Weltrekord von 2:15:25 verlieren; er wird künftig nur Weltbestleistung sein. „Es war nie meine Entscheidung, mit Männern zu laufen“, verteidigt sich die Britin. „Aber was kann ich tun? Ich weiß, was ich geleistet habe.“
Kathrine Switzer denkt eine Weile nach über die Entscheidung des Welt-Leichtathletikverbandes (IAAF), die Zeit von Frauen aus Mixed-Rennen nicht mehr als Rekorde zu akzeptieren. „Man muss Gelegenheiten schaffen, bei denen Leuten mit Tempomachern Rekorde laufen“, sagt sie. Dennoch plädiert die Amerikanerin, die vor 44 Jahren in eine Männerdomäne eindrang, indem sie mit ihrer Teilnahme den Boston-Marathon 1967 zum ersten gemischten Marathon der Welt machte, für getrennte Starts: „Wir dürfen das Drama und die Schönheit des Frauenlaufs nicht aus den Augen verlieren. Man sollte verschiedene Rennen haben, weil der Lauf von Männern und der von Frauen unterschiedliche Sportarten sind; so wie Tennis auch.“
„Ich habe die Welt verändert“
1974 gewann Kathrine Switzer den New York Marathon. Doch zu einer Ikone des Langlaufs hat sie der Boston-Marathon von 1967 gemacht, zu dem sich die damals Zwanzigjährige als K. Switzer gemeldet hatte, den sie mit Mütze, langer Hose und Startnummer 261 antrat und aus dem sie, kaum war sie entdeckt, Renndirektor Jock Semple eigenhändig hinauszuwerfen versuchte. Doch einer der Männer an ihrer Seite war ein Diskuswerfer.
Er stieß Semple beiseite, und Kathrine Switzer konnte als erste Frau einen Marathon – in 4:20 Stunden – offiziell zu Ende bringen. „Ich habe von der Geschichte erst gehört, als ich in New York gelaufen bin“, erzählte am Donnerstag die 37 Jahre alte Engländerin Paula Radcliffe, die am Sonntag als Favoritin den Berlin-Marathon bestreitet. „Unsere Generation nimmt es als selbstverständlich hin, dass wir überall und jede Distanz laufen.“
„Genau dafür habe ich es getan“, erwiderte Kathrine Switzer, die ebenfalls den Berliner Marathon bestreiten wird. In den sechziger Jahren betrug die größte Distanz, die Läuferinnen bei internationalen Titelkämpfen erlaubt war, 800 Meter, und es gab Ärzte und Trainer, die davor warnten, dass Frauen beim Langlauf ihren Uterus schädigen könnten.
„Ich mag das Wort Revolution eigentlich nicht“, sagt die Journalistin und Kommentatorin Switzer. „Aber seitdem hat es wirklich eine gesellschaftliche und kulturelle Revolution gegeben, eine Revolution im Denken über Physiologie und in der Mentalität.“ Seit Los Angeles 1984 gehört der Frauen-Marathon, wie die Bahnläufe über alle Distanzen auch, zum Programm der Olympischen Spiele. Gemeinsam mit dem Kosmetikunternehmen Avon hat Kathrine Switzer auf der ganzen Welt Hunderte von Frauenläufen initiiert. Den in Berlin, der seit 27 Jahren stattfindet, liefen im Mai 17.000 Frauen und Mädchen. Kathrine Switzer antwortet so direkt wie man sie fragt: „Ganz bestimmt habe ich den Sport verändert. Ja, ich habe die Welt verändert.“
Noch längst nicht fertig
Damit ist sie noch längst nicht fertig. Gerade stellt sie ihre Autobiographie mit dem Titel „Marathon Woman“ auf Deutsch vor – besonders liebevoll der 91 Jahre alten Anni Hemmo in Senftenberg. Diese war vor sechzig Jahren auf der Flucht in Amberg gestrandet; der amerikanische Offizier Switzer und seine Frau beschäftigten sie als Tagesmutter ihrer in Deutschland geborenen Tochter Kathrine. Als die Familie 1949 nach Amerika und die Nanny zu ihrer Mutter in die damalige Ostzone zurückkehrten, riss der Kontakt ab. Nun ist er um so herzlicher.
Immer noch ist Kathrine Switzer Vorläuferin. Besonders liegen ihr die Frauen in Entwicklungsländern am Herzen. „Wenn du die Möglichkeit erhältst, jemand zu sein, dann wirst du jemand“, sagt sie. Und wieder steht sie vor der Erkenntnis, dass fehlende Chancen auch verweigerte Möglichkeiten sind.
„Sollen Länder an Olympischen Spielen teilnehmen dürfen, in denen Frauen nicht starten dürfen?“, fragt sie. „Dieses Thema ist viel größer als Sport. Aber vielleicht kann Sport die Barrieren einreißen.“
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Freitag, dem 23. September 2011