Aus dem Trimm-Trab der siebziger Jahre, als man sich nach dem Motto „Laufen, ohne zu schnaufen” die Schuhe schnürte, ist ein modernes Massenphänomen geworden; oder besser: eine Massenbewegung
Marathon in Frankfurt – Als die Läufer den Wald verließen – Frank Neumann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ)
28. Oktober 2006 Soviel Marathon war noch nie. 153 Mal fiel im vergangenen Jahr allein in Deutschland der Startschuß zu einem Wettlauf über die klassische Distanz von 42,195 Kilometern. Auf 100.000 Athleten wird der harte Kern der Marathonläufer geschätzt. Und dazu zählen noch nicht mal die vielen Menschen, die den Marathon wenigstens einmal in Angriff nehmen oder sich die Strecke als Staffel teilen – aus einer Bierlaune heraus oder einfach, weil man mit der Laufgruppe ein neues Ziel sucht.
Aus dem Trimm-Trab der siebziger Jahre, als man sich nach dem Motto „Laufen, ohne zu schnaufen” die Schuhe schnürte, ist ein modernes Massenphänomen geworden; oder besser: eine Massenbewegung. Was einst als Grenzerfahrung für verschrobene Individualisten galt und dem Leistungssport zugerechnet wurde, das sehen viele nur noch als verlängerten Volkslauf. Kann man machen, kein Problem. Freilich läßt sich schon darüber streiten, ob die Marathonmanie auch der Volksgesundheit zuträglich ist. Fest steht aber: Es boomt. Auch beim Frankfurt-Marathon, der an diesem Sonntag seinen 25. Geburtstag feiert, melden die Organisatoren wieder rekordverdächtige Teilnehmerzahlen. Mehr als sechzehntausend wollen auf die Strecke gehen, Hunderttausende schauen ihnen dabei zu und feiern sich selbst sowie die Läufer bei unzähligen Streckenfesten.
Die Jogger entdecken die Stadt
„Im Traum hätten wir damals nicht gedacht, daß sich das einmal soweit entwickeln würde”, sagt Ernst Hellmold, von 1981 bis 1985 Pressesprecher des Hoechst-Marathons. Denn in Frankfurt wurde vor einem Vierteljahrhundert noch Pionierarbeit geleistet. Vom Olympischen Sportclub Hoechst ließ sich der mittlerweile verblichene Chemie- und Pharmariese, die Hoechst AG, überreden, den ersten deutschen Stadtmarathon als Haupt- und Titelsponsor zu finanzieren. Raus aus der Einsamkeit der Felder und Wälder, rein in die Innenstadt. Bis zu diesem Zeitpunkt fanden Marathonläufe quasi unter dem Ausschluß der Öffentlichkeit statt. Erstmals vereinte der Hoechst-Marathon die Masse und die läuferische Spitzenklasse. Was heute normal ist, war damals neu. Man machte es den großen Vorbildern Boston, New York und Stockholm nach.
So gesehen war 1981 hierzulande das Jahr, als die Läufer den Wald verließen und als Jogger die Stadt entdeckten. Aber die Stadt entdeckte auch den Marathon: als Markenzeichen und Instrument der Imagepflege. Damals bekam die Evolution der Marathonentwicklung einen gewaltigen Schub. Nach Frankfurt folgten Berlin und irgendwann Hamburg und Köln und viele andere Städte dem Trend. Und der Boom geht weiter. Obwohl Berlin als größter deutscher Marathon an einem Wochenende fast 50.000 Menschen bewegt, ist die Veranstaltung schon Monate vorher ausgebucht.
„Ich bekam eine schöne Lampe”
Rückblende, 17. Mai 1981: Lauflegende Emil Zatopek gibt das Signal, und 3000 Läufer und ein Rollstuhlfahrer bewegen sich über die Startlinie vor dem Tor Ost der Farbwerke Hoechst. Mit dabei ist der Schwede Kjell-Erik Stahl, der nach 2:13:20 Stunden als Erster ins Ziel kommt. Und dafür eine ungewöhnliche Prämie erhält. „Nachdem ich im Hotel eine Dusche genommen hatte, klopfte es an der Tür. Ein Vertreter des Veranstalters überreichte mir einen Scheck mit meinem Preisgeld über 2000 Mark. Es können auch nur 1000 Mark gewesen sein. Außerdem bekam ich eine schöne Lampe”, erinnert sich Stahl. Im folgenden Jahr konnte die Zahl der gemeldeten Teilnehmer fast verdoppelt werden. Frankfurt hatte den größten deutschen Straßenlauf zu bieten.
Trotz des Erfolges: Fünf Jahre später stieg die Hoechst AG aus, weil sie lieber in den Fußball und ins Eishockey investierte. Die Macher wollten sich mit einer revolutionären Idee retten. Doch statt des geplanten Nachtmarathons mit einem live übertragenen Zieleinlauf ins „Aktuelle Sportstudio” gingen für Deutschlands ersten Stadtmarathon zunächst einmal die Lichter aus. Denn ein Sponsor war nicht in Sicht. Ausgerechnet nach dem Jahr, als mit Herbert Steffny der erste Deutsche in Frankfurt gewann. Bei den Frauen war das der Darmstädterin Charlotte Teske schon 1983 und 1984 gelungen.
Letzter deutscher Sieg vor neun Jahren
1987 schließlich die Neuauflage. Die Stadt Frankfurt übernahm das Ruder. Seitdem hat der Frankfurt-Marathon viele Namen gehabt: Die Titelsponsoren Deutsche Bahn, Eta, Bosch Mobile hielt es nicht lange. Der Versuch der Maleki-Group, einen Relaunch als Euro-Marathon in der Bankenmetropole hinzubekommen, mißlang. Seit 2002, als Organisator Jo Schindler mit seiner Agentur motion-events einstieg und die Messe Frankfurt als Hauptsponsor gewann, geht es wieder zügig bergauf. An Teilnehmer- und Streckenrekorde hat man sich seitdem gewöhnt. Auch international hat Frankfurt mittlerweile einen guten Ruf. Der einmalige Zieleinlauf auf rotem Teppich in der Frankfurter Festhalle ist bei Läufern und Tausenden Zuschauern populär. Die Klasse der Athleten, die in Frankfurt starten, wird immer besser, dem Marathonboom zum Trotz. Auf einen deutschen Sieger wartet man in Frankfurt vergeblich, seit Michael Fietz 1997 gewann. Das wird sich auch bei der 25. Auflage in diesem Jahr nicht ändern.
Zum Geburtstag am Sonntag kommen viele der früheren Sieger, Herbert Steffny (1985, 1989, 1991), Charlotte Teske (1983, 1984), Katrin Dörre-Heinig (1995 bis 1997), Luminita Zaituc (2001, 2003), um in prominent besetzten Staffeln an den Start zu gehen. Kjell-Erik Stahl, der allererste Frankfurt-Gewinner, versucht es acht Jahre nach seinem letzten Marathon noch einmal über die volle Distanz. Das ehrgeizige Ziel des Sechzigjährigen: Er will den Altersweltrekord knacken.
Alter Schwede!
Frank Neumann
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Sonnabend, dem 28. Oktober 2006