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08
11
2007

Die Langlaufgemeinschaft sieht das anders. Ihre Foren im Internet nutzt sie als Pranger, um diejenigen bloßzustellen, die hier mal ein paar Kilometer abschneiden und sich dort für den Altersklassen-Rekord ein bisschen älter machen.

Marathon – Der Betrug lauert in der zweiten Reihe – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

Um 130.000 Dollar für die Sieger wird es beim New-York-Marathon an diesem Sonntag gehen, zusätzlich um einen Jackpot von einer Million Dollar für die Erfolgreichsten der vergangenen zwei Jahre.

Während die Kandidaten für das große Geld in jeder Sekunde von Kameras beobachtet und vor und nach dem Rennen zu Doping-Kontrollen gebeten werden, lauert der Betrug in der zweiten Reihe. "Was in der Zeitzone von drei bis fünf Stunden passiert, können wir nur raten", sagt Mark Milde, der Renndirektor des Berlin-Marathons.

"Das Wort ,betrügen' muss man in Anführungszeichen setzen", behauptet Richard Finn vom New York Road Runners Club, der den Marathon veranstaltet. "Der Einzige, den man betrügt, ist man doch selbst."

Die Langlaufgemeinschaft sieht das anders. Ihre Foren im Internet nutzt sie als Pranger, um diejenigen bloßzustellen, die hier mal ein paar Kilometer abschneiden und sich dort für den Altersklassen-Rekord ein bisschen älter machen.

Wo über notorische Abkürzer geschimpft und Startverbot gefordert wird, fand sich der erste Hinweis auf den Betrug des einstigen mexikanischen Präsidentschaftskandidaten Roberto Madrazo, der nur einen Teil des Berlin-Marathons gerannt, aber fröhlich jubelnd ins Ziel gelaufen war.

Ihm kam als Erstes die Website masters-sport.de auf die Spur, weil er dem Thüringer Martin Wahl den Sieg in der Altersklasse M55 weggeschnappt hatte. Der Betrug war leicht zu beweisen, weil Madrazo zwei Zwischenzeiten fehlten, wie sie ein Chip am Laufschuh alle fünf Kilometer auslöst.

Qualifikationszeit in der U-Bahn

Die Ergebniserfassung ist durch die Elektronik ebenso wie die Kontrolle besser geworden. Perfekt ist sie längst nicht. "Heute werden nur noch finishende Chips registriert, nicht mehr Läufer", schimpft der ehemalige Meisterläufer Herbert Steffny.

Tatsächlich ist mit dem Fall Kerstin Metzler-Mennenga der breiten Öffentlichkeit deutlich geworden, dass so einen Chip auch jemand anders tragen kann als die registrierte Besitzerin. Die Liechtensteinerin hatte einen Läufer angeworben, der ihren Chip so schnell über den Berliner Kurs tragen sollte, dass sie sich mit dem Ergebnis für die Olympischen Spiele in Peking qualifizieren würde. Mit der so erzielten Zeit von 2:42:04 Stunden wäre sie 17. geworden – tief in der Grauzone der öffentlichen Aufmerksamkeit.

Die New Yorker erlebten ihren peinlichsten Betrugsfall vor 27 Jahren. Da lief beim Boston-Marathon Rosie Ruiz als Erste ins Ziel – und wurde überführt, erst wenige hundert Meter zuvor auf die Strecke gesprungen zu sein. Es stellte sich heraus, dass sie sich in New York für diesen Marathon qualifiziert hatte – indem sie U-Bahn fuhr. Seitdem bewacht New York sein Ziel besonders scharf: Läufer ohne Startnummer werden gestoppt und auf den Bürgersteig gebeten.

Wer allerdings mit Startnummer aus der U-Bahn auf die Strecke tritt, wird zunächst in Ruhe gelassen. "Manche Läufer müssen auf die Toilette", sagt Finn, "manche brauchen einen Kaffee zwischendurch." Zu Details sowohl des Betruges wie der Kontrolle will er sich nicht äußern.
Nur so viel: "Wenn mehr als eine Zwischenzeit fehlt, geht eine rote Flagge hoch."

Pfarrer beim Abkürzen erwischt

So verfährt auch Berlin. John Kunkeler, Betreiber eines Jazzclubs und engagierter Läufer, prüft seit Jahrzehnten die Ergebnisliste. "Es ist eine Sauerei, die anderen zu betrügen", schimpft er und vollzieht deshalb mit kriminalistischem Spürsinn nach, warum bei rund 200 der 32.000 Läufer im Ziel zwei Zwischenzeiten fehlen könnten. Kommt er zum Beispiel zu dem Schluss, dass der Läufer in der Grunewaldstraße nach Kilometer 21 abgekürzt hat hinüber zur Urania, Kilometer 34, wird dieser disqualifiziert. Rund siebzig erging es so in diesem Jahr.

"Wer betrügt, kommt nicht in den Himmel", scherzt Horst Milde, der ehemalige Renndirektor des Berlin-Marathons. Er erinnert sich an einen Pfarrer, der beim Abkürzen erwischt wurde, und an den Läufer mit zwei Doktortiteln, der die zweite Hälfte in Weltbestzeit gelaufen sein wollte, ohne dass die Chips das registrierten.

Als Milde ihn anschrieb, drohte der Akademiker mit Klage. Inzwischen hat er Startverbot in Berlin.

Wer in New York nicht gleich nach dem Start in die U-Bahn steigt, kann erst nach der Hälfte der Strecke, der Überquerung des East River auf der Queensboro Bridge, abkürzen. Doch Kunkeler, der den Lauf schon fünfmal bestritt, hat selbst erlebt, wie leicht dessen Regeln zu umgehen sind. Als vor Jahren ein Läufer seiner Gruppe krank wurde, tauchte der Triathlet Lothar Leder auf und übernahm – streng verboten – dessen Nummer. Es wäre kein Wunder, stünde seitdem für einen deutschen Hobbyläufer eine phantastische Bestzeit zu Buche.

Abkürzer sind Aufschneider

"Was geht im Kopf einer solchen Person vor?", macht sich ein Läufer im Internet Gedanken über einen notorischen, schon häufig aufgeflogenenen Betrüger. "Vielleicht finden sich hier die Antworten, zu verstehen, warum viele Athleten dopen und nicht nur dort, wo vermeintlich das große Geld, die Sponsoren, die Medien den soooo großen Druck aufbauen, … sondern im Seniorenbereich, wo kein Geld fließt."

Kunkeler sieht Abkürzer vor allem als Aufschneider. "Das Thema passt zur Diskussion um die Toten bei Marathonläufen", sagt er. "Wenn Jogger imponieren wollen und unvorbereitet Marathon laufen, riskieren sie ihre Gesundheit oder ihr Ansehen."

Wie beruhigend, dass es auch Tiefstapler gibt. "Also ich melde mich immer zwei Altersklassen drunter", schreibt einer im Internet.

"Solange das niemand merkt, fühle ich mich jung."

Michael Reinsch – Frankfurter Allgemeine Zeitung, Sonnabend, dem 3. November 2007

author: GRR

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