Mann mit langem Atem: Wilson Kipsang gehört zur etablierten Läufer-Garde. ©Victah Sailer
Marathon – Das Geld liegt auf der Straße – Michael Reinsch, Berlin in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
15.01.2014 · Eine neue Generation von Läufern drängt von der Leichtathletik-Bahn in den Marathon. Mo Farah und Kenenisa Bekele sind die bekanntesten Namen. Nicht zuletzt geht es ums Geld.
Der Olympiasieger und Weltmeister scheint sich fast dafür entschuldigen zu wollen, dass er beim London-Marathon antritt, traditionell der Marathon mit den namhaftesten Teilnehmern der Welt. „Ich weiß, ich bin in meiner Karriere noch keinen sehr schnellen Marathon gelaufen“, sagt Stephen Kiprotich. „Die Leute vergessen, dass ich ein Anfänger bin. Man kann niemanden beurteilen, der nicht mehr als zehn Marathons gelaufen ist.“
Das klingt kokett von dem jungen Mann aus Uganda. In London 2012 wurde er mit 23 Jahren Olympiasieger, und im vergangenen Jahr, bei der WM in Moskau, gewann er wieder die Goldmedaille. Allein das wird ihm ein ordentliches Antrittsgeld aus dem Millionen-Budget von London garantieren.
Und doch: Mit seiner Bestzeit von 2:07:20 Stunden ist Kiprotich bis zum Start am 13. April bestenfalls die Nummer zehn unter den Favoriten, die London in dieser Woche bekannt gegeben hat. Neun sind auf den 42,195 Kilometer schon schneller gewesen. Ist Geoffrey Mutai die Nummer eins? Immerhin ist kein Mensch je einen Marathon so schnell gerannt wie er 2011 in Boston: in 2:03:02 Stunden.
Weil die Strecke aber nicht den Kriterien des Weltverbands entspricht, hält nicht Mutai den Weltrekord, der Sieger der beiden jüngsten Marathons von New York, sondern sein kenianischer Landsmann Wilson Kipsang. Der war im vergangenen September in Berlin nach 2:03:23 Stunden im Ziel. 2003 lief Paul Tergat den ersten Marathon in weniger als 2:05 Stunden. In London werden sechs Läufer starten, die schon schneller waren.
Die Olympischen Spiele in Rio sind weit weg
Keiner von ihnen wird so viel Aufsehen erregen wie der Debütant Mo Farah. Als Flüchtlingskind aus Somalia nach London gelangt und dort aufgewachsen, ist der Dreißigjährige in den Vereinigten Staaten zum erfolgreichsten Produkt des „Oregon Project“ geworden, das der Sportartikelherstellers Nike in Portland betreibt.
Mit dem Cockney-Anklang in seiner Sprache und dem Triumph über 10.000 und 5000 Meter bei den Olympischen Spielen in seiner Heimatstadt hat er für Briten etwa die Bedeutung, die Boris Becker mit seinem Wimbledon-Sieg vor bald dreißig Jahren für Deutsche erlangte.
Man wisse doch nicht, ob Farah je ein guter Straßenläufer werde, mahnte sein Trainer Alberto Salazar zwar, der beste Marathonläufer der Welt Anfang der achtziger Jahre. Doch die Bahnwettbewerbe der Olympischen Spiele von Rio 2016 sind noch weit weg, da liegt es nahe, die größte Herausforderung des Langlaufs anzunehmen – und die lukrativste.
Knapp 300.000 Euro bekam Farah im vergangenen Jahr allein dafür, dass er in London die halbe Strecke lief. Nun steht für das volle Programm doppelt so viel in Aussicht – kein Läufer dürfte mehr bekommen als er. Im Vergleich dazu und seinen Werbeverträgen wirken die für den Sieger ausgeschriebenen 40.000 Euro sowie der Bonus für eine Zeit unter 2:05 Stunden von 74.000 Euro wie Kleingeld.
Im Vergleich zur aktuellen Marathon-Elite aus Kenia und Äthiopien ist Farah „Old School“: einer, der erst Karriere auf der Bahn macht und nicht so bald wie möglich dem Geld nachjagt, das auf der Straße liegt. Der letzte Große, der diesen Weg ging, war Haile Gebrselassie: Mit Anfang dreißig, im Alter von Farah, begann er seinen Aufstieg zum König der Straße.
„Man läuft genau die selbe Strecke wie sie“
Eine neue Generation wird in dieser Saison von der Bahn kommen. Kenenisa Bekele, der dreimalige Olympiasieger aus Äthiopien, wird eine Woche vor Farah in Paris sein Debüt geben. Er war – beim Great North Run, einem in Newcastle gestarteten Halbmarathon im September – der bisher Letzte, der Farah besiegen konnte. Ibrahim Jeilan aus Äthiopien wird in London dabei sein. Er schnappte Farah bei der Weltmeisterschaft von Daegu 2011 über 10.000 Meter die Goldmedaille weg.
Die Attraktion des Marathons, auch die finanzielle, ist für Martin Grüning aus der Chefredaktion der Zeitschrift „Runners World“ offensichtlich: „Marathon ist ein demokratisches Spektakel. Während der traditionellen Leichtathletik im Stadion Grenzen gesetzt sind, steht man beim Marathon mit den Weltklasse-Läufern gemeinsam am Start. Man läuft genau die selbe Strecke wie sie.“
Die rund 40.000 Startnummern von London sind, wie die von Berlin und New York, innerhalb weniger Minuten vergriffen. Und niemand muss sich entschuldigen. Schon gar nicht Olympiasieger und Weltmeister.
Michael Reinsch, Berlin in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Mittwoch, dem 15. Januar 2014
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