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2012

Der Italiener Dorando Pietri sorgte für eine unsterbliche Erinnerung, als er, führend im Marathon, vor dem Ziel und vor 80 000 entsetzten Zuschauern zusammenbrach. Das Foto, das den kleinen Mann mit Schnurrbart zeigt, wie er ins Ziel wankt, gestützt von Arzt und Ansager mit Megafon, ist eine Ikone der Sportfotografie. Arthur Conan Doyle und Irving Berlin besangen ihn, er gab der Devise eine Basis: Dabeisein ist alles. Denn Dorando Pietri wurde disqualifiziert. ©Sportmuseum Berlin – AIMS Marathon-Museum of Running

LONDON 2012 – Olympische Spiele – Lava und London als Retter – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

26.07.2012  – Zum dritten Mal schon kommt Olympia nach London. Die Spiele haben den Briten viel zu verdanken: Vor langer Zeit, 1908 und 1948, sorgten sie für denkwürdige Veranstaltungen und Anekdoten.

Feuer und Lava haben die Olympischen Spiele gerettet. Der Ausbruch des Vesuv und die Zerstörung Neapels 1906 trieben Rom zum Rückzug und brachten London ins Spiel. Die Briten sorgten 1908, auch unfreiwillig, dafür, dass ein breites Publikum Feuer und Flamme fing für Olympia. Die Spiele waren gefährdet gewesen; nicht durch nutzlose Prestigebauten, Korruption und Doping. Es interessierte sich einfach niemand für sie.

Das änderte sich, als London das Anhängsel der Weltausstellungen von Paris 1900 und St. Louis 1904 in ein eigenständiges Ereignis verwandelte. Der Italiener Dorando Pietri sorgte für eine unsterbliche Erinnerung, als er, führend im Marathon, vor dem Ziel und vor 80 000 entsetzten Zuschauern zusammenbrach. Das Foto, das den kleinen Mann mit Schnurrbart zeigt, wie er ins Ziel wankt, gestützt von Arzt und Ansager mit Megafon, ist eine Ikone der Sportfotografie. Arthur Conan Doyle und Irving Berlin besangen ihn, er gab der Devise eine Basis: Dabeisein ist alles. Denn Dorando Pietri wurde disqualifiziert.

Es geht auch ohne den Staat als Zahlmeister

Vierzig Jahre später lag die Welt in Schutt und Asche, ebenso große Teile Londons. Und ohne die Deutschen, die den erst drei Jahre zuvor beendeten Weltkrieg begonnen und London mit Raketen beschossen hatten, feierten in der englischen Hauptstadt 1948 trotz Armut, Hunger und Zerstörung mehr als doppelt so viele Sportlerinnen und Sportler wie 1908 – 4100 aus 59 Ländern im Vergleich zu gut 2000 in 22 Mannschaften – die Wiedergeburt der Olympischen Spiele. Sie schienen zu beweisen, dass die Welt trotz der Schreckensjahre zusammengerückt war.

Fanny Blankers-Koen gab den Spielen ihr Gesicht, eine dreißigjährige Mutter zweier Kinder.
In sechs Disziplinen hatte die Niederländerin Weltrekorde aufgestellt, darunter im Hochsprung mit 1,71 Metern und im Weitsprung mit 6,25 Metern. Mit Olympiasiegen im Sprint, über 200 Meter, mit der Sprintstaffel und über 80 Meter Hürden wurde sie in selbstgenähten orangefarbenen Shorts zur „fliegenden Hausfrau“. Der Zeitplan zwang sie zum Verzicht auf Hoch- und Weitsprung und damit auf weitere Medaillen.

Die Spiele von London brachten das erste Olympiastadion. Sie bewiesen, dass es auch ohne den Staat als Zahlmeister geht. Und sie haben für Regeln und neutrale Schiedsrichter gesorgt – auch durch Londoner Skandale.
 
Nasse Füße, schwarze Knie – und volle Stadien: Trotz anhaltenden Regens strömten die Zuschauer nach London

Anhaltender Streit zwischen dem amerikanischen Team und den Gastgebern prägte die Spiele vor 104 Jahren. Erstmals marschierten Nationalmannschaften zur Eröffnung ins Stadion ein. Staaten sahen sich repräsentiert, Zuschauer wussten, wen sie anfeuern mussten. So waren die Fronten abgesteckt, als erst auf den Protest der amerikanischen Mannschaft hin deren Flagge im Stadion aufgezogen wurde. Der amerikanische Kugelstoß-Olympiasieger Ralph Rose paradierte daraufhin mit stolz erhobener Flagge an König Edward VII. vorüber. Auf dem legendären Satz, die amerikanische Fahne werde vor keinem irdischen Herrscher gesenkt, basiert inzwischen eine eiserne Tradition.

Überhaupt: die Flaggen. Eine Reihe von irischen Sportlern sagte damals ihre Teilnahme ab, weil sie unter der britischen Flagge hätten marschieren sollen, dem Symbol ihrer Unterdrückung. Die Amerikaner kämpften auch für sie. Ein Großteil von ihnen stammte von der Grünen Insel. Die große Hungersnot, die sechzig Jahre zuvor mehr als eine Million Iren dahingerafft hatte, war Teil ihrer kollektiven Erinnerung. Der Irish American Athletic Club New York, dem zehn der 23 amerikanischen Medaillengewinner entsprangen, war im Gegensatz zu den britischen Clubs Heimat auch für Unterprivilegierte; John Baxter Taylor gehörte dazu, als Mitglied der 4 × 400-Meter-Staffel der erste afro-amerikanische Olympiasieger der Geschichte.
Ein Stadion neben der Weißen Stadt

Ärger und Wut der Amerikaner wurden angefeuert durch die Selbstgewissheit und Arroganz der in Oxford und Cambridge erzogenen Aristokraten. Einerseits führten sie sich als Hüter von Fair Play und Sportsmanship auf. Andererseits ergaben ihre Auslosungen, dass die besten amerikanischen Läufer über 1500 und über 800 Meter jeweils in den selben Vorläufen antraten, aus denen nur der Sieger weiterkam. Mel Sheppard siegte trotzdem auf beiden Distanzen. Vorwürfe und Erwiderungen, Klagen und Häme eskalierten, mit enormer Resonanz in den Londoner Zeitungen und in den amerikanischen Blättern, als das Team der Polizei Liverpool die Hammer- und Diskuswerfer aus den Vereinigten Staaten beim Tauziehen mühelos über den Rasen zog. Wütend protestierten die Amerikaner gegen die eisenbeschlagenen Polizeistiefel, die Briten boten Revanche auf Socken an.

Dieses Spektakel lockte die Londoner dann doch, trotz anhaltenden Regens und dank sinkender Eintrittspreise, ins Stadion. Das war ein Glück für Olympia und für Imre Kiralfy. Der aus Ungarn stammende und in Amerika reich gewordene Impresario hatte für die franco-britische Ausstellung im Westen Londons ein phantastisches Messegelände gebaut, White City. Er baute ein Stadion neben seine Weiße Stadt und überließ es für die erstmals auf zwei Wochen konzentrierten Spiele dem Sport. Dafür verlangte er drei Viertel der Ticket-, Handels- und Werbeeinnahmen und legte zweitausend Pfund drauf – das entspricht heute etwa 1,8 Millionen Euro. Man glaubt es kaum, wenn man an die zwölf Milliarden Euro denkt, die Olympia in London 2012 kosten soll: 1908 waren die ersten Olympischen Spiele ohne finanzielle Beteiligung der öffentlichen Hand und ohne Defizit.
„Der Brite hat die allergrößte Ausdauer“

Das Publikum bekam etwas zu sehen: Beim Endlauf über 400 Meter stieß und rempelte der Amerikaner John Carpenter den Briten Wyndham Halswelle so heftig, dass ein Schiedsrichter das Rennen abbrach. Die Wiederholung, welche die britischen Kampfrichter ohne Carpenter ansetzten, boykottierten dessen Kameraden. Halswelle rannte allein zum Olympiasieg – empörend für die Amerikaner, entwürdigend für die Briten. Für Stockholm 1912 berief das IOC neutrale Kampfrichter.

Die Amerikaner rannten auch gegen das überholte Verständnis von Sportsmanship an. Dieses bedeutete, für den Sieg nicht das Gesicht zu verlieren, eigentlich nicht einmal zu trainieren, schon gar nicht einen ungerechtfertigten Vorteil zu nutzen. Dieser Vorteil konnte etwa darin bestehen, dass jemand körperlich arbeitete. Diese Attitüde führte, etwa bei der Ruderregatta von Henley, dazu, dass allein Gentlemen teilnehmen durften, Arbeiter und Handlanger aber ausgeschlossen waren: Sport zur Abgrenzung der Klassen.
 
Für die Amerikaner aber verband Sport die Gesellschaft; sie sahen in athletischer Exzellenz die Chance des sozialen Aufstiegs. Ihren Gipfel sollte die Konfrontation beim Marathon erleben, am letzten Tag vor der Schlussfeier (welche freilich die Spiele nicht beendete; im Herbst ging es mit einem Wintersportprogramm weiter). „Der Brite hat (…) die allergrößte Ausdauer, wie durch unsere Überlegenheit in Langstreckenrennen immer und immer wieder bewiesen wurde“, ließ sich der Berufsläufer Alf Shrubb vernehmen. „Der Marathon (…) sollte als britisches Gebiet gelten, ist er doch genau die Art von Rennen, in denen unsere Männer gemeinhin brillieren.“

Nichts sonst sprach für die Briten; noch nie hatte ein Marathon in ihrem Land stattgefunden. So kam es wohl auch zu der hemdsärmligen Festlegung der Streckenlänge, die seit dem Marathondebüt von Athen 1896 bei mehr oder weniger 26 Meilen gelegen hatte. In Windsor bot sich die Gelegenheit, vor der Terrasse des königlichen Schlosses zu starten; das Ziel wurde vor die königliche Loge im Stadion gelegt. Der Weltverband machte die 26 Meilen und 285 Yards, die dabei herauskamen, zum Maß des Marathons: 42,195 Kilometer.
 

Allein der straffe Zeitplan zwang die „fliegende Hausfrau“ Fanny Blankers-Koen zum Verzicht auf Hoch- und Weitsprung – und auf weitere Medaillen.

Ein britischer Läufer nach dem anderen gab an jenem hitzeflirrenden Tag auf. Ihr bester wurde Zwölfter. Nur 27 der 55 Starter kamen ins Ziel. Dorando Pietri hatte drei Minuten Vorsprung auf den Amerikaner John Hayes, als er zum ersten Mal stürzte. Danach taumelte er ins Stadion. Die 80 000 Zuschauer wussten, dass nur er einen weiteren amerikanischen Triumph verhindern konnte. Hayes, der durch den Langlauf der gefährlichen Arbeit im New Yorker U-Bahn-Bau entkommen war, lief 32 Sekunden nach Dorando ins Ziel.

Der Sport wird zum athletischen Wettrüsten

Während der Amerikaner nur dank energischer Proteste die Goldmedaille erhielt, wurde Dorando von Königin Alexandra mit einem Silberpokal ausgezeichnet. Seinen unsterblichen Ruhm hätte der Italiener um ein Haar nicht erlebt. Die „Boston Post“ war wohl am dichtesten dran, wie ihre Schlagzeile verrät: „Sterbender Mann gewinnt beinahe großes Rennen“. Der Stadionarzt – das schreibt David Davis in seinem Buch „Showdown at Shepherd’s Bush“ – war sicher, dass Dorando mit Strychnin und Atropin aufgeputscht war, hochgefährlichen Giften.

Wie das so ist: Als Pierre de Coubertin, der Begründer der modernen Olympischen Spiele, sagte: „Das Entscheidende in den Olympischen Spielen ist nicht, zu gewinnen, sondern teilzunehmen. Das Entscheidende im Leben ist nicht, zu erobern, sondern gut zu kämpfen“, da bezog jeder das auf Dorando. Coubertin hatte sich aber von dem amerikanischen Bischof Ethelbert Talbot inspirieren lassen, der Sportler und Funktionäre im Namen von Paulus gemahnt hatte: „Die Spiele selbst sind besser als das Rennen und der Preis.“

Coubertins Worte wurden zum Motto der Spiele 1948. Beim Entzünden des Olympischen Feuers standen sie wie ein Vermächtnis auf der Ergebnistafel. Vielleicht half es: Im Nachkriegs-London fanden, mit den verblüffenden Siegen der französischen Konzertpianistin Micheline Ostermeyer im Diskuswerfen und im Kugelstoßen sowie den ersten Erfolgen des tschechischen Wunderläufers Emil Zatopek die letzten Spiele statt, die nicht von Staatssportlern beherrscht wurden.

Der Kalte Krieg würde mit dem Eintritt der Sowjetunion Stalins in Helsinki 1952 den Sport zum athletischen Wettrüsten pervertieren. Die Berichte von der Blockade Berlins durch die Sowjetarmee und die Flucht der tschechischen Funktionärin und Turnlehrerin Marie Provaznikova vor der Heimreise in die sozialistische Tschechoslowakei deuteten an, was kommen würde.
20561650 © Foto AGE Archive

Taufrische Engländer: Polizisten aus London und Liverpool gewinnen 1908 alle Medaillen im Tauziehen

London 1948 war ein Fest von Sparsamkeit und Improvisation. Nahrung, Treibstoff und Kleidung waren rationiert. Die Gastgeber machten Quartier in Kasernen und Schulen, stellten Bettwäsche, Fahrkarten und magere Lunchpakete. Handtücher waren mitzubringen. Die Holländer brachten tonnenweise Obst und Gemüse mit, die Dänen 160.000 Eier und die Tschechen 20.000 Flaschen Mineralwasser. Auch diesmal bekamen die Veranstalter kein Geld vom Staat. Bei Kosten von 760.000 Pfund (was heute 160 Millionen Euro entsprechen soll) machten sie fast 30.000 Pfund Gewinn. Das Wembley-Stadion war nur gemietet; vierzehn Tage vor der Eröffnung fanden dort noch Hunderennen statt.

Die Iren hatten bei der Eröffnung ihre eigene Fahne, aber nicht genug Kleidung für das ganze Team. Deshalb zogen nur ein paar Ruderer und Fechter ins Stadion ein. Weil beim Bau Wohnungen und Krankenhäuser Priorität hatten, mussten deutsche Kriegsgefangene einen Zugang zum Stadion pflastern. Dieser Wembley Way existiert noch heute. Ein Kriegsgefangener schaffte es bis ins Mannschaftsquartier der englischen Turner: Helmut Bantz. „Er wurde Teil unserer Mannschaft“, erzählte einer der Sportler später, „unser geheimer Trainer.“ Bantz wurde acht Jahre später in Melbourne im deutschen Team Olympiasieger im Pferdsprung.

Der Gentleman-Sport lag in seinen letzten Zuckungen. Angeblich weil er aus Versehen seine Soldatenmütze aufsetzte, wurde der Schwede Gehnell Persson überführt, Feldwebel und nicht Leutnant zu sein. Da aber nur Offiziere im Dressurreiten starten durften, verlor seine Mannschaft den Olympiasieg. Alle anderen dürften gefeiert haben. Denn das Glück von London 1948 bestand nicht im Sieg. Das machten auch die Spiele von Stoke Mandeville deutlich. Diese Wettbewerbe von Kriegsversehrten fanden am Eröffnungstag der Spiele statt.

In den 64 Jahren seitdem sind die Paralympics daraus geworden.

 

Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Donnerstag, dem 26. August 2012

author: GRR

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