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26
11
2008

Am Morgen des 18. August 2008 war der chinesische Volksheld Liu Xiang bei den Olympischen Spielen mit einer Achillessehnenverletzung aus dem Nationalstadion von Peking gehumpelt und hatte eine Nation weinend zurückgelassen.

Liu Xiang – Held unterm Messer – Chinas Hürdenstar Liu Xiang muss sich in den USA operieren lassen. Ob er bei der Leichtathletik-WM 2009 in Berlin starten kann, ist unsicher – Benedikt Voigt, Peking, im Tagesspiegel

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Es gibt in China Dinge, die ändern sich sehr schnell. Wer einen Schanghai-Reiseführer aus dem vergangenen Jahr besitzt, findet von den empfohlenen Restaurants rund 25 Prozent nicht mehr am beschriebenen Platz. Auch gelingt es in China selten, sich für die kommende Woche zu verabreden, stattdessen halten es Chinesen nicht für ungewöhnlich zu fragen: „Können wir uns in zwei Stunden treffen?“

Und dann gibt es in China Dinge, die brauchen etwas länger. Darunter fällt die Operation des Hürdensprinters Liu Xiang.

Am Morgen des 18. August 2008 war der chinesische Volksheld Liu Xiang bei den Olympischen Spielen mit einer Achillessehnenverletzung aus dem Nationalstadion von Peking gehumpelt und hatte eine Nation weinend zurückgelassen. Anschließend hörten seine chinesischen Fans monatelang nichts mehr, bis sie ihn Anfang November bei Dunkelheit in ein Flugzeug nach Houston steigen sahen. Die chinesischen Ärzte hatten ihm längst zur Operation geraten, doch die mit seinem Fall befassten Funktionäre und Trainer wollten weitere Meinungen einholen.

Drei Konsultationen später war sein Trainer Sun Haiping endgültig von einer Operation überzeugt: „Die drei Verkalkungen zwischen Knochen und Band können nicht anders entfernt werden“, sagte er. Sun Haiping ergänzte aber auch, dass einige nicht näher benannte Experten in Schanghai und Peking den Fall weiter diskutieren wollten. Am Sonntag schließlich trat Liu Xiang in Monaco vor die ausländische Presse und gab bekannt: Seine Achillessehne wird Mitte Dezember in Houston unters Messer kommen.

Die seltsame Verzögerung einer notwendigen Operation könnte auch der Berliner Leichtathletik-WM schaden. „Ich weiß noch nicht, ob ich bei der Weltmeisterschaft laufen kann“, sagte der 25 Jahre alte Olympiasieger von Athen, „mich sorgt mehr die Heilung meines Fußes als die Rückkehr zur nächsten Saison.“ Sein Trainer beziffert die Chancen auf eine WM-Teilnahme immerhin mit 90 Prozent, wenn die Heilung gut verläuft. Allerdings seien die Olympischen Spiele 2012 in London Liu Xiangs wichtigster Termin.

Abgesehen von einer Homestory des staatlichen Fernsehens und seiner öffentlichen Abreise ist Liu Xiang seit seinem dramatischen Rückzug bei den Olympischen Spielen kaum öffentlich aufgetreten. Der Mann, dessen Athener Olympiasieg über 110 Meter und Weltrekordlauf von Lausanne täglich irgendwo in China über einen Bildschirm flimmerten, war ab dem 18. August kaum noch zu sehen und zu hören. Das Land, in dem der zweite Platz kaum etwas zählt, musste sich erst daran gewöhnen, dass sein Held gescheitert ist.

Dazu passt, dass sich Liu Xiang erst im Ausland ausführlicher zur Extremerfahrung dieses Jahres äußerte. „Manchmal muss man Unglück aushalten“, sagte er, „alle hatten vielleicht mehr erwartet, als ich leisten kann.“ Er sei im Reinen mit dem, was geschehen ist. „Das olympische Aus war nicht der tragischste Moment in meinen Leben“, sagte Liu Xiang, „das war, als meine Großmutter gestorben ist.“

Wenn alles gut geht, wird die Rehabilitationszeit nach der Operation im Memorial-Hermann-Hospital in Houston fünf Monate betragen. Den Ort der Operation begründet Trainer Sun Haiping mit dem besseren Know-how und den Rehabilitationsmöglichkeiten in den USA. In Houston trifft Liu Xiang auch auf ein vertrautes Umfeld, vor zwei Wochen hatte ihn dort der chinesische Basketballstar der Houston Rockets, Yao Ming, betreuen lassen. Der zweite chinesische Volksheld half ihm, Arzttermine zu besorgen und lud ihn zu einem NBA-Spiel ein. Auch Yao Ming hatte sich im Februar einer Operation unterziehen müssen. Bei ihm war die Entscheidung schneller gefallen.

Allerdings hatten die Houston Rockets auch keine chinesischen Funktionäre fragen müssen.

Benedikt Voigt, Peking, im Tagesspiegel vom Dienstag, dem 25.11.2008

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