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16
05
2009

Lilli Henoch – eine Wegbereiterin der Frauen-Leichtathletik - Theo Rous DLV-Vizepräsident ©Sportmuseum Berlin – AIMS Marathon-Museum of Running

Lilli Henoch – eine Wegbereiterin der Frauen-Leichtathletik – Theo Rous DLV-Vizepräsident

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Der Berliner SC würdigt die Leistungen der 1942 ermordeten jüdischen Leichtathletin und benennt sein Sportfest in Lilli-Henoch-Frauen-Sportfest
Anlässlich des 1. Lilli-Henoch Frauen-Sportfestes des Berliner SC im Mai hielt der Vizepräsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, Theo Rous, die Rede, die  GRR hier veröffentlicht:

Zum vierten Mal führt der ruhmreiche Berliner Sportclub(BSC) heute, am 20.Mai 2004, sein Frauensportfest durch. Der BSC, das war und ist für mich jener Club mit dem Brandenburger Adler auf der Brust berühmter Sportlerinnen und Sportler. Carl Diem, lange Jahre Vorsitzender, Ehrenpräsident und Mitglied bis an sein Lebensende, hat ihn getragen, und getragen haben ihn ganze Heerscharen von Wald- und Staffelläufern in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, z.B. beim Staffellauf Potsdam-Berlin, ein Ereignis, vergleichbar mit dem heutigen Berlin-Marathon.

Fünfzig Läufer bildeten eine Mannschaft. Im letzten Jahr vor dem 1.Weltkrieg nahmen insgesamt 57 Mannschaften teil, darunter das Königin-Elisabeth-Garde-Grenadier-Regiment Nr 3, der Fußballclub Hertha von 1892, der Berliner Tennisclub Borussia und der BSC mit sieben(!) Mannschaften. Eine gab zwar auf, aber dafür gewann die erste Mannschaft mit dem Schlussläufer Friedrich Karl, Prinz von Preußen, dem Neffen des Kaisers, in 1 Stunde, 2 Minuten und 43 Sekunden, fast eine Minute vor dem SCC. Und Carl Diem, selbst Teilnehmer, dichtete: „Die Muskeln aus Eisen, der Wille wie Stahl, wir wollen beweisen, wir Schwarzen zumal, mit dem goldenen Adler: Wir siegen."

Zur Geschichte des Vereins aber gehören auch Spitzenathleten der Vor- und Nachkriegszeit wie der Olympiateilnehmer von 1928 Hermann Schlöske, die Medaillengewinner bei den Olympischen Spielen 1932 und 1936, Zehnkämpfer Wolrad Eberle und Hammerwerfer Erwin Blask, der Hürdenläufer bei den Spielen 1952 in Helsinki, Wolfgang Troßbach, die Brüder Olaf und Jörg Lawrenz und viele andere.

In diesem Jahr steht das Sportfest unter einem besonderen Stern. Der Verein hat beschlossen, diese Veranstaltung in Lilli-Henoch-Frauensportfest umzubenennen. Lilli Henoch (geb. 1899): Das war eine jener Frauen, die in den zwanziger Jahren im Berliner und im deutschen Sport, vor allem in der Leichtathletik, eine besondere Rolle spielten.

Sie trat 1919 dem Berliner Sportclub bei, der zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts über ein vielfältiges Angebot an Sportarten für breite Schichten der Bevölkerung verfügte. Das reichte von der damals so genannten "Athletik" auf dem Sportplatz an der Cicerostraße über Hockey, Boxen, Ringen, Fechten, Tennis, Eishockey bis zum Schwimmen im Seebad Halensee.

Der BSC gehörte zu den ersten Vereinen in Deutschland, die eine Frauenabteilung ins Leben riefen. Die Frauenleichtathletik steckte in jenen Jahren in den Kinderschuhen. Sie wurde in einer von Männern dominierten Sportwelt wenig ernst genommen. Bösartige Diskriminierungen waren nicht selten. Frauenwettbewerbe dienten häufig der Volksbelustigung.

Es gab Wettbewerbe im Kinderwagenschieben, und Journalisten nannten Teilnehmerinnen an athletischen Wettbewerben nur mit Vornamen, um ihren Familien die Schande zu ersparen, mit ihnen öffentlich in Verbindung gebracht zu werden. Der bekannte Sprinter, Sportjournalist und Funktionär Kurt Doerry attestierte seinen weiblichen Kolleginnen, ihr Laufstil stehe zu dem des Mannes in ähnlichem Kontrast wie "das Watscheln einer Ente zum stolzen Schritt eines Rennpferdes".

Der Bremer Arzt Dr.Junkers-Kutnewsky empfahl zwar Mitte der zwanziger Jahre den Frauen die einfachen Übungen des Laufens, Springens und Werfens, allerdings mit der perfiden Begründung, der grüne Rasen habe eine enorm beruhigende Wirkung auf Frauen und außerdem "belasteten die Übungen kaum das Gehirn."

Das klingt nach Stammtischwitz, war aber ernst gemeint. Nicht Leistung, Wettkampf und sportlicher Einsatzwille, sondern Anmut und Schönheit sollten das Auftreten der Frauen im Sport bestimmen. Das Regelwerk der Leichtathletik gestattete in jenen Jahren den Frauen nur eine geringe Auswahl an Disziplinen. Außerdem war nicht erlaubt, an mehr als zehn Wettkämpfen pro Jahr teilzunehmen. Die Regel galt noch 1929.

Aber allen Schwierigkeiten zum Trotz: Nachdem die Deutsche Sportbehörde für Athletik nach dem ersten Weltkrieg die Frauenleichtathletik programmatisch auf den Weg gebracht, Deutsche Meisterschaften in einigen Disziplinen durchgeführt und Rekordlisten eingerichtet hatte, sorgten Athletinnen wie Lilli Henoch mit ihren Leistungen dafür, dass Frauen im Sport mehr und mehr wahr – und vor allem ernst genommen wurden.

Zehnmal wurde sie zwischen 1922 und 1926 Deutsche Meisterin im Kugelstoß, Diskuswurf, Weitsprung und in der 4×100-m-Staffel. Vier Weltrekorde stellte sie auf, und nebenbei zählte sie zur Elite der deutschen Hockey-und Handballspielerinnen. Sie war eine jener Frauen, die der jungen deutschen Frauenleichtathletik Weltgeltung verschafften und den Sport der Frauen insgesamt auf den langwierigen Weg der gesellschaftlichen Anerkennung und Emanzipation brachten.

Für die junge Leichtathletin und Sportlehrerin endete dieser voller Hoffnung begonnene Weg auf brutale und unmenschliche Weise. Lilli Henoch war Jüdin. Mit der Machtergreifung im Jahr 1933 durch die Nazis hatten Sportvereine und -verbände in vorauseilendem Gehorsam die Rassengesetze mit dem berüchtigten "Arierparagraphen" übernommen. Damit war das Schicksal jüdischer Sportlerinnen und Sportler besiegelt.

Sicher hat der Sport die tödlichen Konsequenzen nationalsozialistischer Ideologien nicht gewollt. Aber das "völkische" Denken des Sports lässt lange vor dem Aufkommen des Nationalsozialismus eine unbestreitbare Affinität zu dessen menschenverachtenden Rassentheorien erkennen. Carl Diem erwartete von deutschen Sportlern im Hinblick auf die in Berlin geplanten Olympischen Spiele von 1916, dass sie den Vorsprung des Auslands "ausgleichen durch das Edelmaterial der deutschen Rasse".

Karl Ritter von Halt, einer der großen Sportführer des Dritten Reiches, erwartete von der Frauenleichtathletik, sie habe zur Erziehung und Fortpflanzung einer "gesunden deutschen Rasse" beizutragen und apostrophierte anlässlich der Deutschen Meisterschaften 1933 die jungen Meisterinnen als "Trägerinnen unserer Rasse". Der Cheftrainer Waitzer bezeichnete seine Athletinnen als Repräsentanten des nordischen Rassetyps, und die Olympiasiegerin von 1936, Gisela Mauermeyer, mustergültige und überzeugte Repräsentantin des NS-Sports, verbreitete den Glaubenssatz, "die Frau im Sport handele allein nach den Gesetzen des Bluts und der nordischen Rasse".

Die Folgen dieser Theorien konnten nicht überraschen. Für jüdische Sportlerinnen und Sportler war kein Platz mehr in den Vereinen und -verbänden des gleichgeschalteten Sports. Lilli Henoch wurde aus dem Berliner Sportclub ausgeschlossen. Bis 1938 hatte sie die Möglichkeit, im jüdischen Turn – und Sportclub von 1895 ihrem Sport nachzugehen, bis im Zuge der "Endlösung" der Judenfrage Pogrome und Deportationen zur Tagesordnung gehörten und auch Lilli Henoch ins Verderben führten. Sie wurde mit ihrer Mutter in ein Arbeitslager nach Riga verschleppt und 1942 dort ermordet.

Sportverbände und -vereine haben nach Ende des Krieges und der Naziherrschaft die Aufklärung der Rolle des Sports in jenen unseligen Jahren nicht sonderlich offensiv betrieben. Bis in unsere Tage sind Argumentationen nicht zu überhören, man solle doch die Vergangenheit ruhen lassen, und was hätten denn damals die handelnden Personen anders machen sollen als sich an den "Zeitgeist" anzupassen.

Ich bin anderer Meinung: Wir im Sport sollten, auch wenn mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen ist, nicht zulassen, dass eine nicht immer rühmliche Vergangenheit des organisierten Sports und seiner Führer, aber auch das Phänomen des Wegschauens vieler Mitläufer verharmlost oder gar verschwiegen wird.

Es geht nicht darum, Menschen postum zu diskreditieren, ihren Namen zu beschmutzen, ihre unzweifelhaften Verdienste zu missachten. Carl Diem ist so ein Beispiel. Ich halte ihn für den bedeutendsten Sportführer, den Deutschland je gehabt hat. Aber seine Rolle im dritten Reich ist ambivalent, und es ist legitim und notwendig, die historische Rolle von

Führungspersönlichkeiten, in welchem gesellschaftlichen Kontext auch immer, kritisch zu hinterfragen, nicht nur im Elfenbeinturm der Wissenschaft, auch in unseren Vereinen und Verbänden. Und vor allem: Man darf und man kann auch gar nicht die Rolle des Sports, seiner Führer und Vertreter in jener Zeit ausklammern, wenn es um die unverzichtbare Pflicht der Nachwelt geht, den Opfern gerecht zu werden.

Die Bemühungen, ihrer zu gedenken, ihre Leistungen und ihr Schicksal zu würdigen, – auch nach vielen Jahren -, verdienen unseren Respekt. Wir sollten nicht nachlassen, die Erinnerung an sie aufrecht zu erhalten und die Mechanismen und Strukturen aufzudecken, die zu solchen Katastrophen führen, wie wir sie in Form des Nationalsozialismus erlebt haben. Sie sollte dazu beitragen, dass sich ähnliche Manifestationen der Unmenschlichkeit in unserer Geschichte nicht wiederholen. Erinnerung und ehrliche Aufarbeitung dieser Vergangenheit ist auch deshalb unverzichtbar, damit wir nicht die moralische Legitimation verwirken, ähnliche Entwicklungen überall in der Welt anzuprangern und verhindern zu helfen, auch wenn sie nicht die Dimensionen der Greuel des Dritten Reiches erreichen.

Darin liegt eine Bedeutung des heutigen Tages, und dafür ist dem Berliner Sportclub mit seiner Leichtathletikabteilung und ihrer Leiterin, Dr. Anne-Marie Elbe, zu danken. Sie werden mit dieser Umbenennung und der dankenswerten Ausstellung von Martin-Heinz Ehlert über das Schicksal Lilli Henochs die Welt nicht aus den Angeln heben. Es ist ein Mosaikstein, einer von möglichst vielen, und vor allem glaube ich, dass Lilli Henoch heute ihre Freude daran hätte, wenn sie sähe, wie der BSC, einer der familien-, frauen- und kinderfreundlichsten Vereine Berlins, gerade jungen Frauen ein vielfältiges leichtathletisches Angebot macht.

Ich wünsche mir, dass der Lilli Henoch gewidmete Ehrenpreis, den der DLV für die Siegerin im Kugelstoßen gestiftet hat, einer Disziplin, in der sie Weltrekordlerin war, junge Athletinnen ein wenig motivieren und das Andenken an Lilli Henoch wachhalten hilft.

Der DLV hat in der historischen Abteilung seiner Internetseite eine sogenannte "Hall of Fame" eingerichtet. Dort sind zur Zeit 17 Athletinnen und Athleten aufgeführt, an die nach Meinung der Verantwortlichen aufgrund ihrer Bedeutung in der Geschichte der Leichtathletik unseres Landes die Erinnerung in besonderer Weise wachgehalten werden sollte. Die Liste reicht von Lisa Gelius, der Europameisterin im Speerwerfen von 1938, über Rudolf Harbig, Bert Sumser, Heide Rosendahl, Willi Wülbeck bis Thomas Schönlebe und Ilke Wyludda.

Seit wenigen Tagen gehört auch Lilli Henoch dazu. Ich denke, sie hat es aus vielen Gründen verdient.

 

Theo Rous

author: GRR

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