Trotzdem kann man ihre geradlinige, fast glatte Geschichte als ein Lehrstück für angewandte Gelassenheit lesen. Carolina Klüft folgt ihrer inneren Stimme und ist damit immer auf der richtigen Seite. Und wenn ihr jemand vorwirft, sie würde auf undankbare Weise Medaillen für Schweden verschenken, lächelt sie nur müde. "Eigentlich habe ich mehr Medaillen (für Schweden) gewonnen als jeder sonst."
Während ihrer Goldkarriere hat sie immer wieder gesagt, sie sei noch dasselbe kleine Mädchen, das sie immer gewesen sei. Das sagt Carolina Klüft jetzt nicht mehr, aber sie hat sich noch etwas von ihrem jugendlichen Temperament zurückbehalten. Sie wirkt wie eine erwachsene Jugendliche, gesetzt und trotzdem temperamentvoll.
Sie trägt elegante Strickwaren, aber offene Turnschuhe. Sie sagt strenge Sätze über das Laisser-Faire der schwedischen Kindererziehung, aber gestikuliert und schauspielert zwischendurch so aufgeweckt wie ein Teenager. Ihr Körper ist an vielen Stellen kaputt; wegen des Ermüdungsbruchs hat sie ihre Dreisprungpläne verworfen, Hochsprung kann sie auch nicht mehr machen. Und doch hat sie noch Energie genug, um dieses letzte Olympia-Abenteuer auf sich zu nehmen.
"Nein, ich bin nicht mehr das kleine Mädchen", sagt sie, "aber manchmal glaube ich, ich sollte das kleine Mädchen, das ich war, nicht ganz vergessen. Weil sonst vergesse ich vielleicht irgendwann mich selbst. Ich möchte nicht alt und langweilig werden. Ich möchte die kindliche Art von Humor und Leidenschaft behalten."
Man kann nicht so richtig hineinschauen in Carolina Klüft. Sie redet viel, sie hat Meinungen, sie plädiert für GPS-Peilung im Anti-Doping-Kampf, sie ist eine spannende Interview-Partnerin. Aber sie weiß auch, was sie nicht erzählen will, und deshalb wird nicht ganz klar, wie schwer ihr der bevorstehende Abschied vom Leistungssport wirklich fallen wird.
Und wie sehr sie sich doch danach sehnt, noch einmal eine Olympia-Medaille zu gewinnen. Sicher ist nur, dass Carolina Klüft einen Spaß daran hat, es ernst zu meinen mit dem, was sie anpackt, und dass sie sich diesen Spaß nicht klein reden lassen will von Leuten, die vom Spaß keine Ahnung haben.
Thomas Hahn in der Süddeutschen Zeitung, Sonnabend, dem 28. Dezember 2011