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13
09
2025

World Athletics Championships TOKYO 2025 - Logo

Leichtathletik Nächte in Tokio – Gastbeitrag von Ed Warner – sport-nachgedacht.de – Prof. Dr. Helmut Digel

By GRR 0

Japan bekommt endlich wieder einmal die Chance, die Athleten der Welt in natura zu sehen

Wenn Sie ein Leichtathletik-Fan sind, ist es an der Zeit, Ihre Ausreden für die Arbeit im Home-office zu perfektionieren, wenn am Samstag in Tokio die Weltmeisterschaft beginnt. Wenn Sie westlich von Japan leben, bedeutet das gestörte Schlafmuster und unproduktive Tage, da nunmehr neun Tage lang Medaillen in Shinjuku-Nächten gewonnen werden.

Diese Weltmeisterschaften sind eine Teilbelohnung für eine lokale Bevölkerung, der zweimal die Chance verwehrt wurde, Elite-Leichtathletik-Stars in natura zu sehen: zunächst, als die Pandemie die Verschiebung der Olympischen Spiele auslöste, und dann, als die neu arrangierte Ausgabe hinter verschlossenen Türen stattfand. Sie folgen auch dem Londoner Modell, die LA-Weltmeisterschaft einige Jahre nach den Spielen auszurichten, mit dem doppelten Ziel, die Ausgaben für die Stadien zu rechtfertigen und  die lokale Zuneigung für den Sport zu festigen, die durch die Olympischen Spiele hervorgerufen wurde.

World Athletics (IAAF) trug sein Flaggschiff-Event zuletzt 2007 in Japan aus, als Osaka Gastgeber war. Dies war meine erste Erfahrung bei einer großen Meisterschaft in einer formellen Funktion. Als neuer Vorsitzender des britischen Leichtathletikverbandes  war ich überrascht, Zeuge eines spärlich besuchten Wettkampfs in einer Stadt zu werden – der drittgrößten Japans -, die sich ihrer Existenz kaum bewusst zu sein schien.

Es gab in der Millionenstadt kaum Hinweise auf das Großereignis und Event-Branding auf Werbetafeln und Straßenlaternen war für die meisten Stadtteile ein Fremdwort. Schon gar nicht gab es einen „Rummel“ im Nagai-Stadion.

Vergleicht man Osaka mit Tokio, zeigt sich, wie weit sich die Leichtathletik in den letzten 18 Jahren entwickelt, aber auch, wie wenig sie sich verändert hat.

Damals gab es für den Sport noch keine nennenswerten Weltstars. Das Format war „müde“ und langweilig, ebenso wie die Art und Weise, wie es präsentiert wurde – sowohl am Veranstaltungsort als auch auf den Fernsehbildschirmen auf der ganzen Welt.

Die IAAF wurde von einem Präsidenten geführt, der sich später als korrupt herausstellte, und diese Enthüllung half später, Entscheidungen zu erklären, die damals verblüffend waren. Der Dopingskandal von BALCO hing wie eine Wolke über dem Sport.

In der Zwischenzeit prägte Usain Bolt die Weltleichtathletik (2008 und 2017 markierten seine einmalige Medaillenbilanz), World Athletics hat mit Seb Coe einen Präsidenten, der sich auf die Gewährleistung der Integrität des Sports konzentriert hat (auch wenn Doping nach wie vor eine Geißel ist von der noch immer vor allem die Leichtathletik betroffen ist), und die Anwendung von moderneren Laser-Technologien hat das Stadionerlebnis für die Zuschauer etwas „aufgepeppt“.

Abgesehen von ein paar kleineren Änderungen ist das grundlegende Format der Weltmeisterschaften jedoch weitgehend unverändert, im Guten wie im Schlechten. Das Erbe wird gepflegt, aber sehr lang andauernde Abendprogramme mit viel zu lange andauernden Einzelwettbewerben stellen die Geduld der Zuschauer und der TV-Sender auf die Probe, die darauf bedacht sind, ihre Zuschauer stundenlang an sich zu binden.

Auf der Ticketing-Website von Tokio wird derzeit nur eine ausverkaufte Veranstaltung angezeigt. Es überrascht nicht, dass das an diesem Sonntagabend der Fall ist, an dem sowohl das 100-Meter-Finale der Männer als auch der Frauen ausgetragen wird. Ich habe gesehen, wie sich VIPs bei früheren 100-Meter-Nächten der Männer um die Plätze stritten, wobei das Rennen einen Kultstatus erlangte, der einem Titelkampf im Schwergewicht gleichkommt, mit einer entsprechenden Ticketnachfrage.

Für den Rest der Weltmeisterschaft gibt es jedoch noch viele Tickets, so dass die Organisatoren in der Verantwortung stehen, den Appetit der Einheimischen nach der Aufregung am Eröffnungswochenende zu steigern. Das funktionierte 2009 für Berlin, unterstützt von „Bolt Stardust“, ausnahnweise noch ganz gut. Abgesehen von der Kuriosität, die Doha im Jahr 2019 war, und dem Desaster Eugene 2021 sind die Zuschauerzahlen für die Weltmeisterschaften seitdem in der Regel so angewachsen, um die Veranstaltungsorte für die abendlichen Sessions zu füllen.

Das Japanische Nationalstadion hat eine Kapazität von 68.000 Plätzen. Japanische Kinder sind für das Herbstsemester wieder in der Schule. Die beiden Profi-Baseballteams von Tokio stehen sich nächste Woche an zwei Abenden gegenüber und wetteifern um die Aufmerksamkeit der Sportöffentlichkeit. Keine leichte Marketingaufgabe also.

Für eine Nation, die Marathons liebt, wird das 42-km-Rennen der Frauen am Sonntag vielleicht die notwendige nationale Aufregung entfachen und die Veranstaltung für die kommenden Tage vorbereiten. Das und die Race Walks am Samstagmorgen sind derselben Aufgabe verpflichtet.

Japans Medaillenaussichten sind gering. 2007 in Osaka gewann Japan eine Bronzemedaille im Marathon der Frauen. Bei den folgenden acht Weltmeisterschaften hat Japan nur 17 Medaillen gewonnen, neun davon im Gehen und zwei im Marathon. Der Erfolg im Stadion war Mangelware. Japan hat jedoch die amtierende Weltmeisterin und bestplatzierte Speerwerferin der Frauen, Haruka Kitaguchi – obwohl ihre Saisonbestleistung sie nur auf Platz 6 der Welt platziert. Klugerweise haben die Organisatoren ihr Finale für den kommenden Samstagabend angesetzt.

Glücklicherweise zeigte Paris 2024 auch eine breite Palette von Charakteren des Sports, die nun die Last an den Kinokassen schultern, die sich ein Jahrzehnt lang so anfühlte, als würde sie von einem jamaikanischen Sprinter allein getragen. Abgesehen von Mondo Duplantis im Stabhochsprung kann man mit Fug und Recht sagen, dass keine Medaille für einen Athleten, der in diese Meisterschaften geht, vorherbestimmt ist.

Großbritannien holte sowohl bei den Weltmeisterschaften 2023 in Budapest als auch bei den Olympischen Spielen in Paris zehn Medaillen und steht damit an der Spitze der historischen Charts. Insider, die sich bestimmten Segmenten des Sports verschrieben haben, werden über Disziplinen jammern, die in diesem britischen Team unterrepräsentiert sind, aber das war schon immer so. Zu meiner Zeit beschwerten sich die Wurf- und Mittelstreckengemeinschaften. Heute ist die Mitteldistanz wohl die größte Stärke der Nation.

Die Realität ist, dass nur die USA in der Lage sind, umfassende Stärke in diesem Sport zu demonstrieren, und selbst dann ist jede einzelne Medaille alles andere als sicher. Vor Tokio sind die besten Medaillenaussichten der Briten diejenigen, die in Paris erfolgreich waren. Hinz kommt Molly Caudery im Stabhochsprung. Alles, was in die Nähe von zehn Medaillen käme, würde das britische Team wahrscheinlich als das erfolgreichste Team aus Europa und unter den besten Nationen insgesamt abschneiden lassen.

Gold war für Großbritannien jedoch in jüngster Zeit nur sehr schwer zu holen – nur Keely Hodgkinson in Paris; Josh Kerr und Katrina Johnson-Thompson bei der LA-WM 2023 in Budapest. Dies zeigt einmal mehr, wie hart umkämpft dieser wirklich universelle Sport ist und wie schmal der Abstand zwischen dem Ersten und dem Rest ist.

Als Außenstehender, der heutzutage die Weltleichtathletik nur noch beobachtet, aber ihr auch gerne zuschaut, bin ich bereit, beim Home-Office die Medaillen der Weltmeisterschaft in Tokio in mein Zuhause einzuladen.

 
Prof. Dr. Helmut Digel
Eberhard Karls Universität Tübingen
Institut für Sportwissenschaft
Wilhelmstr. 124 – 72074 Tübingen – Germany
Mobil: +49 162 2903512 – Tel. 00498641 6997330

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