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26
08
2007

Mark Milde, Renndirektor des Berlin-Marathons, sagte: „Dieser Lauf war unverantwortlich. Die Manager haben den großen Marathonläufern allesamt von einem Start abgeraten.

Leichtathletik-WM – Bis zum Umfallen – André Höhne: „Ich fühle mich betrogen“ – Michael Reinsch, Osaka – in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

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Der Berliner André Höhne hat bis zum Umfallen um eine Medaille gekämpft. Doch als er am Sonntagvormittag im Krankenhaus von Osaka zu sich kam, musste ihm sein Trainer Peter Selzer schonend beibringen, dass er nicht nur knapp eine Medaille verpasst, sondern es nicht einmal bis ins Ziel geschafft hatte.

In der letzten Kurve vor der Zielgeraden waren in der Hitze und Feuchtigkeit des japanischen Sommers die Reserven des 29 Jahre alten Gehers mit dem dünnen Bart erschöpft. Schon um acht Uhr morgens, beim Start des Rennens, war die Temperatur auf 40 Grad gestiegen; nun, eineinhalb Stunden später, konnte Höhne nicht mehr. 200 Meter vor dem Ziel stürzte er auf den Rasen des Nagai-Stadions und verlor das Bewusstsein.

Höhne: „Ich fühle mich betrogen“
Kurz vor dem Ziel musste Höhne ohne Erfrischung auskommen

Weil den Gehern an den letzten Verpflegungsstationen keine Wasserschwämme zur Kühlung mehr gereicht worden waren und weil dann auch noch ein Streckenposten Höhne den Weg ins Stadion versperrte, musste der Geher, statt weiter mit dem Australier Luke Adams um die dritte Position zu kämpfen, mitten im Rennen plötzlich stehen bleiben, und als einem weiteren Kampfrichter deutlich wurde, dass er doch keine Runde auf den Straßen mehr vor sich hatte, umkehren und neuen Schwung nehmen.

„Plötzlich waren die Läufer vor mir, die vorher sechzig Meter hinter mir gewesen waren“, sagte Höhne am Nachmittag in Osaka. „Das nächste, an das ich mich erinnere, ist, wie ich aufwachte und mich in den Wassergraben rollte.“ Dann wurde er wieder ohnmächtig. „Ich fühle mich betrogen“, sagte Höhne am Nachmittag, nachdem er aus dem Krankenhaus entlassen worden war. „Die seelischen Schmerzen sind viel schlimmer als die körperlichen. Eine Medaille wäre möglich gewesen.“

Dem Sieger ging es nicht besser
Endlich eine Abkühlung

Bundestrainer Jürgen Mallow schimpfte auf die Organisatoren dieser Titelkämpfe: „Das war einer Weltmeisterschaft nicht würdig.“ Der Deutsche Leichtathletik-Verband reichte bei der Jury Protest ein, wegen fehlender Regeln allerdings ohne jede Aussicht auf Erfolg. „Ich bin gespannt, ob wir überhaupt eine Antwort bekommen“, sagte Mallow. „Die Antwort kann bestenfalls lauten: tut uns Leid.“ Die Jury war allerdings beschäftigt. Sie nahm die Disqualifikation des Spaniers Francisco Javier Fernández, der wegen unsauberen Endspurts auf der Zielgeraden ausgeschlossen worden war, im Laufe des Tages zurück.

Dem Sieger, Jefferson Perez, ging es gesundheitlich nicht besser als Höhne. Als er die Ziellinie überquert hatte, begannen seine Beine zu zittern und auszuschlagen wie bei einem epileptischen Anfall. Der Ekuadorianer stürzte und musste, von Krämpfen am ganzen Körper geschüttelt, auf einer Trage zur ärztlichen Versorgung gebracht werden. Er konnte sich allerdings darüber freuen, dass er nun die Goldmedaillen von drei Weltmeisterschaft nacheinander gewonnen hat, ein historischer Triumph.

Eine Kluft zwischen Weltverband und Athleten

Höhne dagegen steht nach seinem 19.800 Meter langen Leidensweg mit leeren Händen da. Da er sich nicht unter den ersten acht platzieren konnte, entgehen ihm eine Prämie des Leichtathletikverbandes und substantielle Förderung in Deutschland, etwa Zuschüsse für Trainingslager in der Olympiavorbereitung.

Mallow und Höhne beklagten, dass die WM entgegen dem Wohl der Athleten und allein im Interesse der japanischen Sponsoren nach Osaka vergeben worden sei. „Es ist eine Kluft zwischen Weltverband und Athleten entstanden“, sagte Mallow. „Man muss nur mal sehen, wer sich in den gekühlten VIP-Bereichen im Stadion bei Champagner überhaupt noch für Sport interessiert.“ Die IAAF musste 50.000 Tickets verschenken, um das Stadion halbwegs voll zu bekommen.

Drei hitzebedingte Ausfälle über zwanzig Kilometer

Im Wettbewerb über zwanzig Kilometer gab es bei 42 Teilnehmern drei hitzebedingte Ausfälle und sieben Disqualifikationen. Am Samstag, als um sieben Uhr morgens 85 Läufer zum ersten Wettbewerb dieser Titelkämpfe, dem Marathon, gestartet waren, schied ein Drittel der Teilnehmer aus.

Weltmeister wurde auf den langsamsten 42,195 Kilometern aller bisherigen Weltmeisterschaften (2:15,59 Stunden) der Kenianer Luke Kibet. Der Schweizer Viktor Röthlin, der überraschend auf Platz drei rannte, kam dem Zusammenbruch im Ziel zuvor, indem er sich auf die Bahn kniete und sie küsste. Von der Strecke berichtete der deutsche Läufer Martin Beckmann, der bei Kilometer dreißig aufgeben musste: „Es war ein Bild des Grauens.“

„Das Fass ist übergelaufen“
Die Hitze macht den Athleten zu schaffen

Ulrich Steidl kam auf Platz 37 und erlitt im Ziel einen Kreislaufkollaps. Mark Milde, Renndirektor des Berlin-Marathons, sagte: „Dieser Lauf war unverantwortlich. Die Manager haben den großen Marathonläufern allesamt von einem Start abgeraten.“ Mallow sagte: „Dies war der Höhepunkt einer Reihe von organisatorischen Mängel, die wir bisher mit Gleichmut tragen. Wir werden sie auch weiterhin mit Gleichmut tragen, weil die Organisatoren überfordert sind. Aber das Fass ist übergelaufen, wenn das Ergebnis dramatisch verfälscht wird.“

Er und Mitglieder der Nationalmannschaft berichten von chaotischen Verhältnissen beim Transport zu Training und Wettkampf, davon, dass Hotelzimmer fehlten und Sportler sich an eng gefasste Essenszeiten halten müssten. Mallow schickte die Siebenkämpferin Lilli Schwarzkopf in der Wettkampfpause deshalb ins Restaurant; Kugelstoßer Ralf Bartels zog in der Nacht zum Sonntag, nachdem er Siebter geworden war und er wegen der Dopingprobe den letzten Bus ins Hotel verpasst hatte, zur Stärkung in ein Hamburger-Restaurant.

Michael Reinsch
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Sonntag, dem 26. August 2007

author: GRR

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