In diesen Tagen muss Bolt mehr kämpfen um Erfolge als ihm lieb ist. ©Victah Sailor
Leichtathletik-WM 2015 – Bolts Gänsehaut im Vogelnest – Michael Reinsch, Peking in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Auch Usain Bolt kann überwältigt sein. Vor sieben Jahren etablierte sich der schlaksige Jamaikaner bei den Olympischen Spielen von Peking mit drei Goldmedaillen nachdrücklich in der Welt des Sports.
Alle drei Sprints im Vogelnest, über 100 Meter, über 200 Meter und mit der 4 × 100-Meter-Staffel, gewann er mit Weltrekord, und welch ein Wunder da über die Leichtathletik gekommen war, zeigte er schon in seinem ersten Finale: Da rannte er mit offenem Schnürsenkel der Konkurrenz auf und davon, und obwohl er schon zehn, fünfzehn Meter vor dem Zielstrich die Arme ausbreitete zum Jubel, war er doch so schnell wie niemand je vor ihm.
Die 9,69 Sekunden sind in der Geschichte des Sprints nur zwei Mal unterboten worden: von Bolt selbst; 2009 mit seinem bis heute gültigen Weltrekord von 9,58 Sekunden bei der Weltmeisterschaft in Berlin und 2012 in 9,63 Sekunden bei seinem Olympiasieg von London. Über 200 Meter brach Bolt in Peking in 19,30 Sekunden eine zwölf Jahre alte Bestzeit, ein Monument der Leichtathletik.
„Dieser Weltrekord bedeutete mir mehr als alle anderen“, sagt er noch heute.
Der Abend, an dem er ihn lief, der 20. August 2008, ist ihm allerdings nicht nur in Erinnerung, weil er schneller war als der bewunderte Michael Johnson bei den Olympischen Spielen von Atlanta 1996. Für den Gänsehaut-Moment des Abends sorgten die 80.000 Zuschauer im Vogelnest. Sie sangen „Happy Birthday“ für ihren „dear Usain“. 21 Jahre war er da alt und blieb es noch bis Mitternacht.
„Party? Welche Party?“, fragt Bolt heute. Er ist nach Peking zurückgekommen, sieben Jahre älter, und am Vorabend seines Geburtstags tritt er diesmal zu einer Pressekonferenz an. Ihre Inszenierung zeigt, was aus dem Jungen aus dem Kaff Sherwood Content in der jamaikanischen Provinz geworden ist: eine Ikone des Sports, einer der reichsten Athleten der Welt, eine Legende, wie er seinen Anspruch selbst benennt. „Ich habe mich sehr verändert“, sagt er. „Ich bin heute ein anderer Junge.“
Sportartikelhersteller Puma und der jamaikanische Verband haben in einem der teuersten Hotels der Stadt einen Saal gemietet, um ihren Mann gut 200 Journalisten zu präsentieren, zusammen mit neuen Schuhen und einer neuen Kollektion Laufkleidung. Drei Blöcke von je siebzig Stühlen haben sie vor einer Bühne aufgefahren, auf der nichts als ein Sofa steht. Rechts und links türmen sich Lautsprecherboxen, aus denen jamaikanischer Pop tönt. Vor und nach dem Auftritt Bolts läuft „High Voltage“, Hochspannung.
Zehn Millionen Dollar sollen Jahr für Jahr aus Herzogenaurach nach Kingston überwiesen werden. Puma steuert damit den Großteil der 21 Millionen Dollar bei, auf die „Forbes“ das Einkommen des schnellsten Mannes der Welt schätzt.
Selbst wenn Bolt die halbe Million Dollar Startgeld bekommt, von denen in der Szene gesprochen wird: So wenig, wie er in den vergangenen beiden Jahren gelaufen ist, müssen Ausrüster und Werbepartner für den allergrößten Teil seines Auskommens sorgen.
Bei Olympia 2008 in Peking holte der Jamaikaner drei Goldmedaillen.
Welche Party? An diesem Freitag wird Bolt 29 Jahre alt, am Sonntag steht im Vogelnest das Sprint-Finale der am Samstag beginnenden Weltmeisterschaft auf dem Programm. Entsprechend nüchtern gibt sich der Sprinter. „Je älter man wird, desto mehr musst du opfern“, sagt er. „Ich merke den Unterschied über die Jahre.“ Damals habe er vor allem gestaunt, sogar den Flug habe er als aufregend empfunden, erzählt er, entspannt auf einem Sofa sitzend: „Es war die reine Freude: der Wettkampf, das Geburtstagsständchen.“ „Lieben dich die Leute immer noch?, fragt Moderator Colin Jackson. „Das glaube ich“, antwortet Bolt.
Ruhm und Liebe sind das eine, die Last der Jahre das andere.
Eine Beinverletzung, eine angeborene Rückgratverkrümmung und jüngst eine Leistenverletzung bremsten den Sprinter in den vergangenen zwei Jahren. Der Amerikaner Justin Gatlin, zwei Mal wegen Dopings gesperrt, hat sich in Abwesenheit von Bolt zum schnellsten Sprinter der Saison aufgeschwungen. Vier Mal hat er bereits 9,8 Sekunden unterboten, und mit seiner Bestzeit von 9,74 Sekunden liegt er dreizehn Hundertstel unter der Zeit, mit der Bolt bei der Diamond League in London zurückkam.
Dennoch strahlt Bolt Ruhe und Selbstgewissheit aus. Obwohl er für eine lebenslange Sperre überführter Doper ist, will er nicht Position beziehen zu Gatlin, dessen zwei Vorstrafen eine erhebliche Hypothek für die Glaubwürdigkeit sind. „Es gibt die Regeln“, sagt Bolt, „er darf zurückkommen.“ Alles andere sei keine Frage für ihn: „Am Ende muss ich doch gegen ihn laufen.“
Für das Rennen sei er zuversichtlich. „Mein Trainer ist happy“, sagt Bolt. „Das zeigt mir, dass alles stimmt.“
Michael Reinsch, Peking in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Freitag, dem 21. August 2015