Der Rekord von Usain Bolt würde durch die Reform gelöscht werden. ©Victah Sailer
Leichtathletik und Rekorde – Ja zum scharfen Schnitt! – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Denn längst geht es für den olympischen Sport und insbesondere für die sogenannte Kernsportart der Spiele, die Leichtathletik, im öffentlichen Ansehen immer weiter abwärts.
Nachdem das systematische Doping im DDR-Sport entlarvt wurde, gleich nach der deutschen Einheit, folgten Enthüllungen über das weitverbreitete und geförderte Doping in der alten Bundesrepublik Deutschland, in Russland.
Mehr als hundert Leichtathleten, die an den Spielen von Peking 2008 und London 2012 teilnahmen, sind des Dopings überführt, Olympische Spiele und Weltmeisterschaften damit diskreditiert. Wer wollte da dem Nachwuchs erklären, dass die phantastischen Bestleistungen in den Rekordlisten, die selbst Topathleten unserer Tage nicht erreichen können, für ihn heute noch ein Maßstab sind?
Noch dazu wirkt ein Rekordtableau konservierend wie eine Ruhmeshalle, und was man sich mit so einer Hall of Fame einbrocken kann, wissen sie gerade im deutschen Sport: Altlasten nämlich, mit denen man besser nichts zu tun hat.
Die Europäer wollen mit dem radikalen Vorschlag beweisen, dass sie es ernst meinen mit der Rettung ihres Sports.
Da kann es keine Einzelfallprüfung geben, nicht einmal für Usain Bolt, die Schuld oder Unschuld des Einzelnen beweisen soll. Da bedarf es eines scharfen Schnitts, der eben weil er brutal so viele Rekordhalter auf einmal ins Gestern befördert, als nicht belastend für den Einzelfall verstanden werden darf.
Gerade das Verhalten des Internationalen Olympischen Komitees wirkt verstärkend: Auf dessen Sanktionen für den großen Betrug des russischen Sports bis hin zum Diebstahl belastender Proben bei den Winterspielen von Sotschi 2014 wartet die Welt immer noch.
Wie die Leichtathleten sich beim Ausschluss der Russen vom internationalen Wettbewerb zunächst nicht mit Einzelfällen aufgehalten haben, sondern ihnen nachträglich erlauben, als neutrale Athleten zu starten, wollen sie auch nun eher das große Ganze richten, statt Zeit zu verspielen.
Der Dreh, Rekorde zum Eigentum des Verbandes zu erklären und ihre Anerkennung von der Integrität des Athleten abhängig zu machen, überzeugt. Denn längst weiß jeder, dass schnell zu rennen, weit zu werfen nichts bedeutet, wenn niemand kontrolliert.
Dafür in den Verbänden aus Amerika, Afrika und Asien Zustimmung zu finden dürfte für IAAF-Präsident Sebastian Coe vermutlich noch schwerer werden als die Verbandsreform vom vergangenen Jahr.
Jeder, der sich wehrt, kann schließlich vorgeben, er kämpfe für unschuldige Athleten.
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Mittwoch, dem 3. Mai 2017
Autor: Michael Reinsch, Korrespondent für Sport in Berlin.