Die Zeit ist längst vorüber, in der überragende sportliche Leistung mit charakterlicher Vorbildwirkung gleichgesetzt wurde.
Leichtathletik-Kommentar – Höchst verdächtiges Vergnügen – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
08. Juli 2009 Jetzt kriegt Usain Bolt auch wieder die Kurve. Bei seinem ersten 200-Meter-Lauf der europäischen Saison am Dienstagabend in Lausanne bog der Wunderknabe als Erster auf die Gerade ein, und dann gab es kein Halten mehr. Weil der Olympiasieger aus Jamaika sich weder von Regen und Gegenwind aufhalten noch zu frühzeitigem Jubel hinreißen ließ, versetzte er wieder einmal die Welt der Leichtathletik in ungläubiges Staunen: 19,59 Sekunden!
Unter diesen Umständen! Weniger als drei Zehntelsekunden ist er damit dem Weltrekord von 19,30 nahe gekommen, den er vor elf Monaten im Endlauf der Olympischen Spiele von Peking aufstellte.
Noch Anfang des Jahres konnte Bolt nicht einmal auf der Geraden unfallfrei Gas geben. Als er versuchte, mit Badeschlappen an den Füßen die Kraft seines BMW M3 auf eine regennasse Ausfallstraße von Kingston zu bringen, fabrizierte er einen veritablen Überschlag. Bolt mitsamt Auto landeten im Straßengraben. Der Wagen wird in Deutschland repariert.
Keiner läuft schneller: in Lausanne hatte Bolt über acht Zehntel Vorsprung au…
Keiner läuft schneller: in Lausanne hatte Bolt über acht Zehntel Vorsprung auf den Zweiten, LaShawn Merrit (r.)
Zu Fuß und in Spikes läuft es besser. Nur Michael Johnson bei seinem vermeintlichen Jahrhundert-Weltrekord von 19,32 Sekunden von Atlanta 1996 und Tyson Gay bei seinem Comeback vor gut einem Monat in New York in 19,58 Sekunden rannten die 200 Meter je schneller als Bolt in der Kälte von Lausanne. Dabei habe er, behauptet Bolt, den Trainingsausfall durch den Autounfall noch nicht kompensiert und müsse noch an technischen Unfertigkeiten arbeiten.
Kein Wunder, dass der 22 Jahre alte Champion nun nicht nur als Favorit der Weltmeisterschaft gilt, sondern dass alle Welt auch von ihm erwartet, dass er auf trockener blauer Piste in Berlin die Rekorde über hundert und zweihundert Meter unterbietet. Kein Wunder aber auch, dass Bolt Kopfschütteln und Stirnrunzeln auslöst. Sollte einer, der seine drei Olympiasiege in Weltrekordzeit erzielte und seitdem mindestens 150.000 Dollar pro Auftritt verlangen kann, seine Kraft aus der Ernährung mit Yamswurzel und frittiertem Hühnerfleisch beziehen? Sollte einer von der Insel, deren Sprinterinnen und Sprinter in Peking in acht Wettbewerben sechs Olympiasiege und elf Medaillen holten, wirklich sauber sein?
Die Zeit ist längst vorüber, in der überragende sportliche Leistung mit charakterlicher Vorbildwirkung gleichgesetzt wurde. Zahlen auf der Anzeigentafel erscheinen so glaubwürdig wie Renditeversprechen vergangener Tage. Man muss sich das nur deutlich machen: Bolt ist mit seiner Zeit von 9,69 Sekunden so viel schneller als Ben Johnson bei seinem Olympiasieg von Seoul 1988 (9,79), als Tim Montgomery beim Weltrekord von Paris 2002 (9,78), als Justin Gatlin beim Olympiasieg von Athen 2004 (9,85). Sie alle wurden des Dopings überführt.
Trotzdem werden die Zuschauer den 200-Meter-Lauf von Lausanne so bald nicht vergessen. Bolt veranstaltete ein großartiges Spektakel. Er rannte nicht nur schnell, sondern auch beeindruckend elegant. Wer heute Spitzensport mit Sympathie betrachtet, wird zu einer Art Doppeldenk gezwungen, wie es George Orwell in „1984“ beschrieb: widersprüchliche Gedanken gleichzeitig und unfallfrei in ein und demselben Kopf zu hegen, widersprüchliche Tatsachen ein- und auszublenden.
Insofern war Bolts Lauf höchst verdächtig. Und zugleich ein ästhetisches Vergnügen.
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Mittwoch dem 8. Juli 2009
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