Idriss Gonschinska, Vorsitzender des Deutschen Leichtathletik-Verbandes - Foto: Horst Milde
Leichtathletik-Chef Idriss Gonschinska erklärt: „Wer Lust drauf hat, kann die fünf Kilometer schaffen – Wir sehen uns als Teil der Sport-Community“ – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Wie bleibt die Leichtathletik langfristig attraktiv? DLV-Vorsitzender Idriss Gonschinska spricht im Interview über den Jogging-Hype, Vernetzung von Leistungs- und Hobbysportlern und wie er die Generation Z erreichen will.
Idriss Gonschinska, Vorsitzender des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, über Laufen als Kern seines Sports, Vernetzung von Leistungs- und Hobbysportlern und wie er die Generation Z erreichen will
Herr Gonschinska, die Finals am Wochenende in Berlin mit der deutschen Meisterschaft im Olympiastadion sind Auftakt einer Leichtathletik-Saison mit zwei internationalen Höhepunkten: den Weltmeisterschaften in Eugene/Oregon und den Europameisterschaften in München. Herausforderung oder Chance?
Drei solche Topevents in dichter Folge sind eine Chance im Sinne der öffentlichen Wahrnehmung. Sie ergänzen sich und bauen aufeinander auf. Für die Athleten und das Trainer- und Kompetenzteam ist dies eine Herausforderung. Es gilt, das Zeit-, Klima- und das Regenerations-Management optimal zu gestalten. Wir wollen wahrgenommen werden, wir wollen Gelegenheit zur Identifikation bieten und die Vielfalt der Leichtathletik darstellen und erlebbar machen.
Was verändert sich, wenn die Leichtathletik Teil der Finals ist, wenn um sie herum, wie auch in München, weitere Meisterschaften stattfinden?
Multi-Sportevents sind neue Formate. In Berlin haben wir die Woche der Sommersportarten. Hier wie in München sind wir die Lokomotive, der Kern der Veranstaltung. Dies ist etwas anderes, als wenn man eine eigene Meisterschaft generiert. Der Abstimmungsbedarf ist größer, aber man hat die Chance, die Communities anderer Sportarten zu erreichen. Es gibt Interaktion. Die Einschaltquoten der Finals zeigen, dass dieses Format angenommen wird. Wir sehen uns als Teil der Sport-Community. Ohne Zusage der Leichtathleten würde es dieses Format vermutlich nicht geben.
Die Finals scheinen ein Erfolgsmodell zu sein. Eine Wiederholung von München allerdings soll es nicht geben. Die Leichtathletik steigt aus den European Championships aus und wird 2024 in Rom ihre Europameisterschaft wieder allein austragen. Wie beurteilen Sie das, und bleiben Sie bei den Finals an Bord?
Zunächst hoffen wir, dass das Wochenende ein Erfolg wird. Danach werden wir wie bereits 2019 die Ergebnisse analysieren.
Leichtathletik-Veranstaltungen in Deutschland sind ansonsten klein, finden überwiegend in der Provinz statt und sind vom hohen Altersdurchschnitt des Publikums geprägt. Warum ist Leichtathletik nicht hip?
In den vergangenen zweieinhalb Jahren haben wir eine starke gesellschaftliche Transformation erlebt. Digitale Prozesse, neue Kommunikationsformen. Konnektivität und Individualität gehören zu den Megatrends, Mobilität, Globalisierung. All dies beeinflusst auch eine Kernsportart. Ich glaube, dass 45 bis 50 Prozent der Mitglieder in der Leichtathletik unter fünfzig Jahre alt sind. Bei den Zuschauern sind die Zahlen deutlich anders. In der Pandemie haben wir erlebt, dass viele Menschen begonnen haben zu joggen. Laufen kann jeder, alt und jung. Laufen ist ein Kernelement der Leichtathletik, genauso wie Springen und Werfen. Vielleicht erreichen wir, was die Veranstaltungen angeht, jüngere Menschen durch die Vernetzung von realer und virtueller Welt und durch eine Veränderung in der Event-Präsentation.
Sind die Stadtläufe und Groß-Marathons den Vereinen und dem Verband nicht längst davongelaufen?
Es gibt die Stadion-Leichtathletik und die Leichtathletik außerhalb des Stadions. Beim Laufen hat man die Perspektive, dies sehr individuell und sehr unabhängig gestalten zu können und über eine veränderte Idee von Informationsmanagement viel Input zu generieren. Wie nähern wir uns dem wieder? Wir haben die Idee, Every-Day-Athleten zu fördern und uns dafür mit der kürzesten der Langstrecken, den fünf Kilometern auseinanderzusetzen. Unser Programm heißt From Zero to Five, und wir wollen damit Impulse setzen. Die Motivation junger Menschen hat sich deutlich verändert. Der Generation Z geht es weniger ums Leistungsprinzip als ums Wohlfühlen, um Selbsterweiterung, um Gesundheit. Dafür gilt es, eine neue Ansprache und neue Bindungsformate zu generieren. Die Idee, einen Sportverband als Marke zu entwickeln, sich klar zu positionieren und gesellschaftlich relevant zu machen, hilft, Menschen zu erreichen.
Der Schritt vom Amateur- in den Leistungsbereich ist machbar, sagt der DLV-Vorsitzende.
Es geht nicht um Erfolg, sondern um Spaß?
Ich habe keine Idee, wie Erfolg ohne Spaß gehen sollte. Begeisterung ist die Grundlage, die wir fördern wollen, die Leidenschaft, die Freude an der Bewegung. Ich bin überzeugt: Wenn man Lust drauf hat, kann man die fünf Kilometer schaffen. Dafür bieten wir unser Know-how an. Wir wollen eine Kampagne entwickeln: Wie kann man das erste Mal fünf Kilometer laufen? Das wollen wir koppeln mit der ersten Straßenweltmeisterschaft von World Athletics 2023 in Riga, dort wird es einen offenen Lauf über diese Distanz geben. Wir werden die fünf Kilometer bei nationalen Meisterschaften anbieten, und wir werden diese Strecke fördern. Wir wollen dazu motivieren, dass man’s mal angeht. Gleichzeitig haben wir weiterhin die Verantwortung, Talente zu fördern und mit den Nationalmannschaften erfolgreich zu sein. Begeisterung ist dafür natürlich eine Grundlage, genauso wie konsequente und harte Arbeit.
Das soll den DLV relevant machen?
Die Gesellschaft wird geprägt von Communities. Ich kann mir vorstellen, dass ein Nachwuchsläufer einen ähnlichen Lebensstil verfolgt wie ein Masters-Athlet, wie ein Topathlet und wie jemand, der aus gesundheitlichen Gründen Sport treibt. Bringt man sie in Kontakt, fördert man eine Community. Das ist, was wir wollen. Wenige Sportarten enthalten nicht Elemente der Leichtathletik. Ich kann mir vorstellen, dass wir aus unserer Vielfalt Challenges schaffen, an denen viele Menschen gleichzeitig teilnehmen, obwohl sie nicht zur selben Zeit am selben Ort sind. Das haben wir gelernt in der Pandemie. Das macht uns relevant.
Bei WM und EM werden wieder Medaillen gezählt werden. Wie gut müssen die Deutschen sein, damit Publikum und Sie zufrieden sind?
Ich wünsche mir, dass die Athleten und das Trainerteam ihre jeweiligen Ziele erreichen. Grundlage dafür sind die individuellen Ausgangspunkte. Es ist wichtig, dass sie sich fokussiert vorbereiten und performen, sobald es drauf ankommt: wenn sie Saison-Bestleistungen erreichen. Aber man muss fairerweise sagen, dass so ein Turnier nicht vergleichbar ist mit einem Meeting, bei dem perfekte Bedingungen herrschen. Das bedeutet: Qualifikationen am Morgen, mehrere Runden innerhalb einer Disziplin. Zeit- und Klimaansprache führen oft dazu, dass man Leistungen einordnen muss. Wir haben ein Raster: Wo ist meine Positionierung bei den letzten Meldungen, und um wie viele Positionen habe ich mich in die eine oder andere Richtung orientiert?
Wie viele Medaillen erwarten Sie?
Man muss die Ziele individualisieren. In einer Sportart, in der 208 oder 209 Nationen an Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen teilnehmen, sind im Zeitalter von digitaler Transformation und New Learn Rahmenbedingungen nicht vergleichbar mit früher. Wir haben in der Jahresbestenliste einen Speerwerfer aus Grenada vorn. Wir haben im Speerwurf einen Weltmeister aus Indien und einen Olympiasieger aus Trinidad und Tobago. Die Welt mit ihren hochbegabten Athleten rückt in allen Disziplinen zusammen. Deshalb müssen wir es besonderen Athleten wie Malaika Mihambo, wie Johannes Vetter, Julian Weber, Gesa Krause, auch den Youngsters in der 4×100-Meter-Staffel ermöglichen, ihre individuellen Träume zu erfüllen. Wenn das klappt, haben wir ein tolles Ergebnis. Aber wenn Topathleten wie Johannes Vetter oder Niklas Kaul in Tokio verletzungsbedingt ausfallen, können wir das nicht kompensieren.
Vetter ist am weichen Boden gescheitert, nicht an einer Verletzung.
Er hat, man sieht das, wenn man die Qualifikation und das Finale anschaut, ein paar deutliche Blessuren mitgenommen. Die Rahmenbedingungen waren für seine Idee und seine Technik überhaupt nicht geeignet.
Welche Innovation hat Sie in letzter Zeit beeindruckt? Und welche nicht?
Es gibt die erwähnte Innovation bei Belägen. Sie haben einen deutlich höheren Rebound-Effekt, das heißt: Sie ermöglichen höhere Abdruckgeschwindigkeiten und schnelleren Lauf. Aber sie erschweren das Abstoppen aus hoher Geschwindigkeit.
Der Johannes-Vetter-Effekt.
Ich würde mir wünschen, dass man bei solchen Entwicklungen die Spezifik der einzelnen Disziplinen berücksichtigt. Im Hochsprung und im Speerwurf braucht man anderes Material als in Sprint oder Sprung. Dies ist ein Dialog, den wir mit den internationalen Verbänden führen. Die digitale Vernetzung von Athleten und Zuschauern, das schnelle Übermitteln von Resultaten – wer ist gerade vorn -, das Einblenden von Marken, führt zu einer besseren Interaktion zwischen Community, Veranstalter und Athleten.
Was gefällt Ihnen nicht?
Dass der letzte Versuch zählt in den Sprungwettbewerben und nicht die Leistung davor. Jemand springt Bestleistung, dreißig Zentimeter weiter als alle anderen, aber der letzte Versuch führt dazu, dass das Ergebnis umgekehrt wird – das ist schwer zu vermitteln. Richtig finde ich, die letzten Versuche zu highlighten: wenn die Reihenfolge verändert und die Präsentation anders wird, wenn man über einen Hot Seat eine Kommunikation über die Athleten gibt. Ich finde gut, dass die Leichtathletik in die Städte geht. Ich würde mich über das ein oder andere Teamevent freuen. Und – ich weiß gar nicht, ob das heute noch innovativ ist – mir gefällt das Indoor-Istaf, bei dem wenige Events gehighlightet werden und man unsere Sportart mit vielfältigen Effekten darstellt. Und ich finde gut, dass die fünf Kilometer auf der Straße ins internationale Programm aufgenommen werden. Damit kann man sich leicht identifizieren, leichter als mit einem Marathon.
Einer Ihrer Vorgänger, Jürgen Mallow, kritisiert, Tokio mit dem Olympiasieg von Mihambo im Weitsprung und den Silbermedaillen von Diskuswerferin Kristin Pudenz und Geher Jonathan Hilber sei eine Station auf dem Niedergang der deutschen Leichtathletik. Wann geht es aufwärts?
Ich hatte ein tolles Gespräch mit Jürgen Mallow. Er ist der Mann, der mich eingestellt hat, als er Landestrainer in Berlin war und später beim DLV lange Jahre begleitet und gefördert hat. Daher ist mir sein persönlicher Rat wichtig. Ich glaube aber nicht, dass es sinnvoll ist, auf Gegebenheiten von vor zehn, fünfzehn Jahren einzugehen. Man kann Entwicklungsphasen nicht vergleichen, man kann internationale Meisterschaften nicht vergleichen. Aber man kann auch nicht leugnen, dass wir eine gesellschaftliche Transformation durchlaufen haben, die Motive junger Menschen und Bedingungen fürs Sporttreiben völlig verändert hat. Wir können auch nicht negieren, dass es einen Generationswechsel bei den Trainern gegeben hat. Menschen haben heute andere Lebensvorstellungen als vor zehn, fünfzehn Jahren. Damit müssen wir umgehen. Ich bezweifle, dass wir die Herausforderungen der Zukunft meistern, indem wir immer zurückschauen.
Das Gespräch führte Michael Reinsch. Frankfurter Allgemeine Zeitung, Freitag, dem 24.6.2022