2006 ING/NYC Marathon NYC, NY November 5, 2006 Photo: Victah Sailer@Photo Run Victah1111@aol.com 631-741-1865
Laufen statt Radfahren – Armstrong ist nicht aufzuhalten – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Das muss man sich mal vorstellen: ein Hobbylauf durch den Wald, 35 Kilometer in strömendem Regen, vier Dutzend Teilnehmer. Plötzlich stürmt einer vorneweg, dessen gelbes Trikot wie ein Markenzeichen wirkt, ja, wie ein Signal.
Jeder erkennt ihn auf den ersten Blick: Lance Armstrong, der vielleicht berühmteste Doper der Welt, lebenslang gesperrt für alle Wettbewerbe des organisierten Hochleistungssports.
Beim Woodside Ramble, einem Geländelauf irgendwo zwischen San Francisco und Palo Alto, schnappt er einem ambitionierten Renner den Sieg und 47 weiteren Enthusiasten eine zumindest um eine Stelle bessere Plazierung weg.
Er habe wie jeder andere Startgeld bezahlt, sagen die Veranstalter, sie hätten nicht mit seinem Erscheinen geworben, und er habe weder T-Shirt noch Medaille genommen. Im Sport und in den sozialen Medien wird dennoch heiß diskutiert. Manche halten seinen Lauf für einen Skandal.
Schließlich hat Armstrong nicht nur, wie er zugeben musste, sieben Mal gedopt die Tour de France gewonnen. Er hat Helfer im Team gezwungen mitzumachen, sie mussten lügen wie er, und er bedrohte und schädigte Konkurrenten, Journalisten und andere, die an der behaupteten Sauberkeit seinen Leistungen zweifelten.
Plaudern mit Armstrong
Roger Montes, mit mehr als einer Minute Rückstand Zweiter, gab Armstrong im Ziel die Hand und plauderte mit ihm über den kuriosen Umstand, dass Sieger und Zweiter des Laufs ehemalige Radrennfahrer sind. Wie der Veranstalter scheint er nichts dagegen zu haben, dass der vom organisierten Sport Ausgeschlossene sich auf Grasswurzel-Ebene die Füße vertrat, so schnell er konnte.
Für andere ist sein Lauf ein Symbol.
Der Mann, der laut amerikanischer Anti-Doping-Agentur Bandenchef war für das ausgefeilteste, professionellste und erfolgreichste Doping-Programm, das es je im Sport gab (wie würden sie bloß DDR-Doping, Balco und die russische Leichtathletik nennen?), befleckt nun auch noch den unschuldigen Sport an der Basis.
Doch da ist nichts zu machen: Der Ramble durch Woodside findet außerhalb der Jurisprudenz von Verband und Anti-Doping-Agentur statt. Niemand wollte und niemand konnte Armstrong aufhalten.
Mit dem Hinweis, Armstrong sei schließlich nicht aus der Gesellschaft ausgestoßen und habe das Recht auf ein wenig Spaß durch Sport, eröffnen die Veranstalter ein weites Feld. Schließlich wird diese Art des Sporttreibens außerhalb der von Machenschaften und Korruption belasteten Verbände selbst zum Symbol.
Staatsanwälte auf beiden Seiten des Atlantiks ermitteln gegen die Spitzen von Verbänden im Fußball und in der Leichtathletik.
Vielleicht sollten wir froh sein, dass man noch querfeldein rennen kann, ohne sich Organisationen zugehörig fühlen zu müssen wie dem Weltverband der Leichtathletik.
Dessen langjähriger Präsident wartet in Frankreich auf seinen Prozess wegen Korruption und Geldwäsche. Das ist nicht schlimmer als Doping. Aber auch nicht besser.
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Freitag, dem 18. Dezmber 2015