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08
2016

2016 Doha Diamond League Doha, Qatar May 6, 2016 Photo: Andrew McClanahan@PhotoRun Victah1111@aol.com 631-291-3409 www.photorun.net

Läuferin aus Südafrika Der Fall Semenya entzweit die Leichtathletik – Michael Reinsch, Rio de Janeiro in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

Vielleicht wird die Leichtathletik am Samstag von einem Weltrekord befreit. Seit 33 Jahren belastet die Bestmarke über 800 Meter der Frauen ihren Sport, die älteste Bestmarke der Sportart.

Die 1:53,28 Minuten von Jarmila Kratochvilova, gelaufen im Juli 1983 in München, stehen für die bleierne Ära des Kalten Krieges im Sport und für staatliches Doping zu Ruhm und Ehre des Sozialismus.

Die Athletin aus der Tschechoslowakei pflügte in den achtziger Jahren mit kraftvollem Schritt und muskulösem, eckigem Körper durch die Mittelstrecke. Ihr Trainer nannte sie einen Panzer, und das Publikum fragte sich, ob sie nicht in Wirklichkeit ein Mann sei.

Ob der Weltrekord fällt oder nicht: Auch am Samstag wird sich das Publikum fragen, ob die Siegerin nicht in Wirklichkeit ein Mann ist. Caster Semenya, die Favoritin, ist groß, eckig und stampft kraftvoll durch die Mittelstrecke. Vor vier Wochen verbesserte sie beim Diamond-Meeting von Monte Carlo ihre Bestzeit der vergangenen Jahre um acht Sekunden auf 1:55,33 Minuten; damit hat sie sich der Leistungsfähigkeit genähert, die sie 2009 hatte, als sie in Berlin Weltmeisterin wurde.

Sie ist die Nummer zwölf der Rekordliste und deutlich die Nummer eins des Jahres. So mühelos, wie sie siegt, weckt sie den Eindruck, dass sie ihr Potential längst noch nicht ausgeschöpft hat. Ihre Leistungsexplosion ist das Ergebnis einer persönlichen Befreiung. Und eine Belastung für den Sport.

„Es gibt Zweifel, dass diese Lady eine Frau ist“

Sieben Jahre ist es her, dass Caster Semenya Weltmeisterin wurde. Mit der Empörung des Betrogenen verkündete der Generalsekretär des Leichtathletik-Weltverbandes (IAAF) damals nach dem Rennen: „Es gibt Zweifel, dass diese Lady eine Frau ist.“ Für die gerade 18 Jahre alte Läuferin aus Südafrika begann eine Leidenszeit.

Der Verband sperrte sie und ordnete eine Untersuchung an, die eigentlich ihre Startberechtigung in Frauenrennen klären sollte. Der Fall machte deutlich, dass es nicht allein Frauen und Männer gibt und die Vorstellung von Geschlechts-Tests überholt ist.

 © AFP Vergrößern Weit voraus: Caster Semenya wirkt riesig inmitten der zierlichen Konkurrenz

Caster Semenya hat sich nie an der Debatte beteiligt und weder bestätigt noch dementiert, was am Ende der Untersuchung publiziert wurde: dass sie mehr körpereigenes Testosteron produziere als Durchschnittsfrauen. Das Diktat des Sportverbandes, sich einer Operation oder einer Hormontherapie zur Limitierung des Testosterons zu unterwerfen, um startberechtigt zu sein, hob im vergangenen Jahr das oberste Sport-Schiedsgericht (Cas) auf. Es war nicht Caster Semenya, die geklagt hatte.

Aber sie ist eine der Gewinnerinnen des Spruchs; sie wirkt wie befreit. Sie ist wieder die alte.

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So überlegen ist die Südafrikanerin, inzwischen mit einer Frau verheiratet, dass sie sich immer wieder fragen lassen muss, ob und wann sie den Weltrekord angreife. „Ich denke nicht an Rekorde“, sagte sie in Rio de Janeiro. „Was zählt, ist eine Goldmedaille, Silber oder Bronze.“ Sie wolle die Spiele genießen, sonst nichts. Es wirkt, als mache sich die 1,78 Meter große, unter den zierlichen Läuferinnen riesig wirkende Caster Semenya vorsätzlich klein. Als wollte sie bloß nicht die Debatte befeuern mit offenkundiger Dominanz. Ihre Zurückhaltung im Rennen, ihr Verzicht auf die 1500 Meter wirken, als wollte sie den einen Olympiasieg und ansonsten ihre Ruhe.

Doch der Cas verlangt eine Entscheidung der Leichtathleten.

Zwei Jahre Zeit hat er ihnen gegeben, eine Lösung zu finden, aus der sich eine Regel für die Zulassung machen lässt. Semenya spricht nicht darüber, ob sie ein Fall von Hyperandrogenismus ist, aber sie wirkt befreit von einer Hormonbehandlung, die sie nicht wollte.

Bei den Olympischen Spielen von London 2012 gewann sie die Silbermedaille; bei der Weltmeisterschaft von Peking im vergangenen Jahr scheiterte sie im Halbfinale. Nicht wenige Fachleute glauben, dass sie sich zurückgehalten habe. „Ich bin nicht unecht“, sagte sie im Interview mit der BBC. „Ich bin von Natur aus so. Ich bin einfach Caster.“ Ihre Mutter spricht von Caster als ihrem Mädchen.

Ihr absehbarer Olympiasieg wird wieder die Frage nach der Grenze zwischen natürlicher Gabe und unfairem Vorteil aufwerfen.

Hinter vorgehaltener Hand beklagen Konkurrentinnen das Offensichtliche: Caster Semenya ist anders als sie, stärker, unbesiegbar.

Ist es fair, sie dennoch im Frauen-Rennen starten zu lassen? Wäre es unfair, sie auszuschließen? Mehr als ein Dutzend Sportlerinnen mit natürlich erhöhten Testosteronwerten nehmen derzeit an Leichtathletik-Wettbewerben teil. „Ich will niemand sein, der ich nicht sein will“, sagte Caster Semanya. „Ich will nicht sein, was die Leute von mir verlangen. Ich will nur ich sein. Ich bin so geboren. Ich will nichts ändern.“

Der Sport steht vor der Frage, ob er Hormone, die, zugeführt, als Doping verboten sind, als natürliche Gabe akzeptieren kann.

Michael Reinsch, Rio de Janeiro in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Sonnabend, dem 20. August 2016

author: GRR

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