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18
07
2010

Die langjährige Freundin des Läufers hatte immer gelacht, wenn er behauptete: „Fitschen ist ein Markenname.“ Nun heißt sie Heike Fitschen. „Ich bin sehr glücklich“, sagt er.

Läufer Jan Fitschen – „Der bekloppte Sportlerehrgeiz“ – Von Michael Reinsch, Braunschweig, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

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In vier Jahren kann eine Menge passieren: Man kann sein Diplom machen, man kann heiraten, man kann ein neues Studium beginnen. So ist es Jan Fitschen geschehen. Er hätte allerdings gern ein bisschen mehr zu erzählen über die Zeit, seit er Europameister im 10.000-Meter-Lauf geworden ist. „Ich habe mir meine Highlights woanders gesucht“, sagt er.

Auch Selbstironie hilft Jan Fitschen über die Runden, seit er am 8. August 2006, einem Dienstagabend, auf der Zielgeraden des Ullevi-Stadions von Göteborg zu seinem größten sportlichen Erfolg spurtete. Für diese Goldmedaille war er von den 5000 auf die 10.000 Meter gewechselt. Strategie und Taktik krönte er mit einem Überraschungsangriff.

Als Sieger behauptete er kokett, er sei nur mittelmäßig begabt; Kenianer und Äthiopier seien ihm Lichtjahre voraus. Er hätte sich nicht träumen lassen, dass er nicht einmal den Versuch würde machen können, sich mit ihnen bei den Olympischen Spielen von Peking oder bei der Weltmeisterschaft von Berlin zu messen.

Laufen ist Kopfsache: Jan Fitschen feiert seinen EM-Titel 2006 in Helsinki
 
Inzwischen ist Fitschen 33 Jahre alt. „Könnte sein, dass Barcelona mein Abschied von der Bahn wird“, sagt er. In Braunschweig tritt der Läufer aus Wattenscheid an diesem Sonntag zur deutschen Meisterschaft über 5000 Meter an. „Das ist ein Vorbereitungslauf“, sagt er. „Das Ziel ist ein anderes.“ In der übernächsten Woche, wieder an einem Dienstagabend, wird er in Barcelona bei der Europameisterschaft antreten als Titelverteidiger.
„Irgendwann sagt der Körper: So nicht, mein Freund“

Fitschen ist froh, wieder dabei zu sein nach all den Jahren der Verletzungen und der Befürchtung, vielleicht nie mehr rennen zu können. Ausgerechnet im Olympiajahr hatte eine hartnäckig entzündete Sehne im Fuß ihn lahmgelegt. Zwar hielt er sich mit Radtraining und Aquajogging sportlich über Wasser. Doch sowohl für Peking 2008 wie für Berlin 2009, Höhepunkte im Leben eines Leichtathleten, fiel er aus.

Im Internet beschrieb er die Tristesse der endlosen Winter auf den Radwegen und in den Schwimmbädern des Ruhrgebiets sowie die Glücksmomente aufkeimender Hoffnung so lakonisch und so mitreißend zugleich, dass eine Laufzeitschrift ihn als Kolumnisten verpflichtete.
 
„Irgendwann sagt der Körper: So nicht, mein Freund“, übersetzt Fitschen den Streik seiner Plantarsehne. Er hätte ihn vermeiden können, vermutet er, wenn er sich auf Training und Regeneration konzentriert hätte. Doch Fitschen braucht neben der sportlichen die intellektuelle Herausforderung.

So sprang er, als er nach 21 Semestern endlich sein Physik-Diplom anging – das Thema lautete „Absorptionsspektroskopie an deuteriertem Ethan“ – um sieben Uhr morgens aus dem Bett, aß sein Frühstücksbrot auf dem Weg in die Uni, baute die Versuchsanordnung auf, bevor er das erste Training absolvierte. Danach nahm er die Messergebnisse auf, aß in der Mensa und gönnte sich, auf einer Matte, die er auf dem Fußboden des Labors ausrollte, ein halbes Stündchen Mittagsschlaf.

„Es war ganz klar. Das alles zusammen wurde zu viel.“

Am Nachmittag wartete die zweite Runde der athletischen und akademischen Herausforderung. Eigentlich ein Wunder, dass er 2007 und 2008 seine Bestzeiten auf den Langstrecken um acht und um zehn Sekunden auf 13:14,85 sowie 28:02,55 Minuten verbesserte. Und eigentlich kein Wunder, dass dann das System ausfiel. „Es war ganz klar“, sagt Fitschen. „Das alles zusammen wurde zu viel.“ Damit er sich nicht unterfordert, hat er vor einem Jahr ein Masterstudium in Management an der Fernuniversität Hagen begonnen.

„Wäre ich nicht Europameister geworden, würde ich wohl nicht mehr laufen, sondern arbeiten“, sagt Fitschen. Laufen ist das Glück seines Lebens. Der Titel hat ihm ermöglicht, mit Wettkämpfen und Laufseminaren Geld zu verdienen. Während seiner Verletzungspause hat er zwar viel Geld verloren, doch auch einen Sponsor dazugewonnen. Im nächsten Jahr will er auf den Marathon umsteigen, ein sehr lukratives Gewerbe.

„Fitschen ist ein Markenname. Ich bin sehr glücklich.“

Fitschen hätte sich also, als er vor fünf Wochen in Marseille, im zweiten Rennen nach zwei Jahren Verletzungspause, in 28:32 Minuten die Qualifikationsnorm für Barcelona erreichte, zufriedengeben können. Doch Zufriedenheit ist Fitschens Sache nicht. „Der bekloppte Sportlerehrgeiz“, sagt er, habe ihn im Training in St. Moritz gepackt, von dem er am Freitag in Braunschweig anreiste. Er trainierte so intensiv, dass die Oberschenkelmuskulatur sich mit Verhärtung wehrte. Fitschen musste joggen. Er könne froh sein, sagt der Titelverteidiger, wenn er in Barcelona unter die ersten zwölf laufe; er habe absolut keine Medaillenchance.

Die langjährige Freundin des Läufers hatte immer gelacht, wenn er behauptete: „Fitschen ist ein Markenname.“ Nun heißt sie Heike Fitschen. „Ich bin sehr glücklich“, sagt er.

Michael Reinsch, Braunschweig, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Sonntag, dem 18. Juli 2010

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