Krise in der Leichtathletik - Das Doppelleben des Helmut Digel - Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ©Universität Tübingen
Krise in der Leichtathletik – Das Doppelleben des Helmut Digel – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Helmut Digel scheint den Verband zu porträtieren, dem er zwanzig Jahre lang als Vizepräsident und Mitglied des Councils angehörte: Er schreibt von feudalen Strukturen und von Abhängigkeiten, er beschreibt ausgeprägte Egoismen und wachsenden Doping-Betrug, er konstatiert Korruption und Geldgier. Dies untergrabe demokratische Strukturen und führe die erzieherische Qualität des Sports ad absurdum.
Lamine Diack aus Senegal hat als Präsident des Internationalen LeichtathletikVerbandes (IAAF) das Regime eines Sonnenkönigs etabliert und sich ungeniert bereichert.
Digel, fünfundzwanzig Jahre in Gremien des Verbandes aktiv, benennt, so scheint es, die Gründe: „Die tatsächlichen Entscheidungsprozesse entziehen sich zunehmend demokratischer Legitimation. Mit dem angeblich sehr demokratischen Wahlprinzip ,one country ,one vote‘ lässt sich dabei nahezu beliebig Schindluder treiben. Die Stimmen kleinerer Länder sind – gleich zu Paketen gebündelt – gegen entsprechende Leistungen zu erwerben.“
Die entlarvende Analyse ist nur vermeintlich die des Insiders Digel. Vielmehr geht er, von dem man konkrete Einblicke und saftige Details erwarten könnte, auf Distanz zu dem, was er vor Augen hat. So schwadroniert er, dass die Präsidenten der internationalen Handball- und Fußball-Verbände ebenso wie der des Volleyball-Weltverbandes zur Alleinherrschaft neigten. Und Schluss.
Den Großmeister dieser Disziplin, Lamine Diack, den Mann, den er acht Jahre lang als Vizepräsident vertrat und in dessen Hofrat, Council genannt, er zwanzig Jahre lang mitwirkte, den Weltverband der Leichtathleten, erwähnt Digel nicht.
Vielleicht erklärt dies, warum so viele Menschen so zornig auf den inzwischen 72 Jahre alten Digel sind. Die Zitate entstammen einem Zeitungsartikel, den Digel im November 2007 für den Berliner „Tagesspiegel“ schrieb, knapp zwei Jahre vor den Weltmeisterschaften der Leichtathleten in Berlin. Und sie erklären vielleicht, welches Missverständnis seinem Engagement zugrunde lag.
Bröckelnde Verteidigung: Helmut Digel wusste mehr von den Schmiergeldzahlungen beim IAAF, als er bislang zugeben mochte.
Denn drei Jahre zuvor saß Digel im Flughafenhotel von Stuttgart mit einem Vertreter der Messe, Rolf Schneider, und mit Papa Massata Diack, nach dem heute Interpol fahndet. Vater und Sohn Diack haben positive Doping-Tests des Verbandes genutzt, um Athleten, Manager und Verbandsführer insbesondere in Russland zu erpressen; wenn Geld floss, durften Doper starten, selbst bei den Olympischen Spielen von London 2012.
Diack senior darf Frankreich nicht verlassen, der Junior hält sich in seiner Heimatstadt Dakar auf; Senegal verweigert die Auslieferung. Korruption und Gier demonstrierte PMD, wie Papa Massata Diack im Verband genannt wurde, damals in Stuttgart exemplarisch, als über die Bewerbung der Stadt um das IAAF-Weltfinale 2006 beraten wurde.
„Ein schriftlicher Vertragsentwurf, geschrieben von Herrn P. Diack, ist bei Herrn Schneider noch am selben Tag eingegangen“, schreibt Digel in einer E-Mail an die Frankfurter Allgemeine Zeitung. „Herr Schneider war über den Inhalt dieses Entwurfs entsetzt und hat mich sofort informiert.“
Das Entsetzen ist nachvollziehbar, führte Diack junior doch aus, dass er 40.000 Dollar für direkte Bestechung brauche – „VIP Geschenk-Päckchen (wertvolle Uhren Ebel, Rolex, Mont Blanc)“ – sowie knapp 400.000 Dollar für angebliche Entwicklungsprojekte in Asien und Afrika, darunter bis heute nicht realisierte Bauvorhaben und luftige Etatposten wie „Unterstützung für Wettbewerbe (weltweit)“ und „Reise-Unterstützung“.
Auf 600.000 Dollar habe sich die Forderung belaufen, erinnert sich Schneider, einschließlich Honorars. Er und die Messegesellschaft antworteten auf die Unverschämtheit nicht einmal. Dabei war das Angebot ein Schnäppchen, wie man heute weiß. In E-Mails, die vor zwei Jahren ans Licht kamen, bot Diack junior Qatar das Votum seines Vaters für die Weltmeisterschaft 2017 für fünf Millionen Dollar an.
Daraus ist die WM 2019 geworden. Der Emir lässt dafür in Doha nicht nur 36 Millionen Dollar extra für die IAAF springen. Der Leichtathletik-Verband des Emirats hat zudem mindestens ein Council-Mitglied, den kenianischen Verbandspräsidenten Isaiah Kiplagat, mit zwei Geländewagen bestochen.
„Ich weise darauf hin, dass durch das Handeln von Herrn Schneider und mir der Korruptionsversuch gescheitert ist“, schreibt Digel. Er reagiert damit auf den Kommentar der F.A.Z. mit der Schlagzeile: „Digel hat’s gewusst“.
Weiter schreibt er: „Ein Mitwissen über Korruption innerhalb der Leichtathletik möchte ich jedoch in aller Entschiedenheit, auch Ihnen gegenüber, zurückweisen.“ Vielmehr habe er, seinerzeit Vorsitzender der Marketing-Kommission der IAAF, gegenüber Diack junior schriftlich protestiert und ihm verboten, den Namen Digel zu verwenden. Diesen Brief habe er dem damaligen IAAF-Generalsekretär Pierre Weiss zur Kenntnis übersandt; darüber hinaus sei der Präsident über das Verhalten seines Sohnes informiert worden.
Weiss, längst in Pension, sagt am Telefon, er habe am Freitag vor einer Woche zum ersten Mal von dem Vorgang gehört. An einen Brief in der Sache könne er sich nicht erinnern und habe nichts darüber im Computer gefunden. „Wenn es einen Brief gegeben hätte, würde ich mich erinnern“, sagt er.
In Stuttgart zeigten sich die Anfänge eines Raubzugs, mit dem die internationale Leichtathletik ihre Glaubwürdigkeit verloren hat und – anders, als das bei der Fifa der Fall ist – auch der Kern ihrer sportlichen Glaubwürdigkeit kompromittiert ist. „Vielleicht stellen Sie sich die Frage, was Sie an meiner Stelle getan hätten“, schreibt Digel, „wenn Sie mit einem derartigen Korruptionsversuch konfrontiert gewesen wären.“
Die Frage geht nicht nur an einen Journalisten, sie geht an jeden, der den Sport mit seinen Werten vertritt.
Muss ein Funktionär es bei einem solchen Vorfall zum Eklat kommen lassen? Muss er, wenn er darin ein Muster erkennt, unter Protest zurücktreten? Oder sollte er diskret und auf lange Sicht versuchen, Einfluss zu nehmen?
Als Scheinheilige stellt Alfons Hörmann Digel und den ehemaligen Fußball-Präsidenten Theo Zwanziger dar. „Wie kann es passieren, dass jemand auf der Weltverbandsebene nicht mitbekommt, nicht adressiert, nicht verantwortlich in irgendeiner Form exekutiert, was im Rahmen seiner Verantwortung als Präsidiumsmitglied notwendig gewesen wäre?“, rief er bei der Vollversammlung des Deutschen Olympischen Sportbundes, dessen Präsident er ist.
„Wo liegt die Verantwortung derjenigen, die uns in diesen Gremien vertreten?“
Digel warf er vor, dem deutschen Sport im Monatsrhythmus mitzuteilen, was besser zu machen sei, was schlecht gelaufen sei. „Auf Podien zu referieren und in den Medien zu parlieren reicht nicht aus. Wir müssen unserer Verantwortung gerecht werden, um die Glaubwürdigkeit wiederzuerhalten. Ich möchte uns alle in der laufenden Generation dazu aufrufen: So dürfen wir Deutschland international nicht präsentieren und repräsentieren!“
Hörmann setzte das Dilemma derjenigen auf die Tagesordnung, die international Verantwortung übernehmen für Sport als gesellschaftliche Kraft, die auf Werten basiert: Sauberkeit, Fairness, Chancengleichheit, Regeltreue. Digel ist das Gesicht einer kleinen Riege, von denen – Hörmann erwähnte ihn nicht – Thomas Bach, Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), der erfolgreichste ist.
Mit wem müssen sie sich einlassen, wobei ein Auge zudrücken, um glaubwürdig und ansprechbar zu bleiben? Und wie gewinnen sie die Stimmen derjenigen, deren Privilegien sie beschneiden müssten oder müssen, sobald sie gewählt sind? Bach hat sich auf seinem Weg auf die Hilfe von Scheich Ahmed al-Sabah aus Kuweit verlassen können und hatte, zuletzt bei den Angriffen des Sportaccord-Vorsitzenden Marius Vizer, einen engagierten Unterstützer in IOC-Mitglied Lamine Diack. Dem Diack, der 2007 genug hatte von seinem Vizepräsidenten Digel und ihn durch den ehemaligen Stabhochspringer Sergej Bubka ersetzte.
Prominenz schlage Programm, klagte Digel damals in Osaka, als Bubka und Sebastian Coe, der heutige Präsident, gewählt waren. Heute sagt er, Diack habe die Wahl beeinflusst.
Das Dilemma des Sportfunktionärs: Er muss ein moralisches Fundament haben und zugleich pragmatische Geschmeidigkeit. Er muss Werte vertreten und zugleich etwas erreichen können. Er muss Anstand mit Diplomatie verbinden können, Durchsetzungsfähigkeit mit Grundsätzen.
Wie Digel grundsätzlich Kritik übte, wie er in einer Flut von Publikationen Systeme analysierte und Muster aufzeigte, wie er praktisch nie Athleten kritisierte, aber sich anhaltend die Sympathien des Apparats verscherzte, wirkte er wie jemand, der ständig seine Koordinaten bestimmt, sich aber dennoch im Wald verläuft.
Er sei immer Wissenschaftler geblieben und habe sich durch seine Tätigkeit einen einmaligen Zugang zu seinem Forschungsgegenstand verschafft, behauptet er: „Ich habe fünfundzwanzig Jahre ein Doppelleben geführt.“
Zugleich beschreibt er, wie ihn das Luxusleben veränderte. „Ich habe oft gedacht: Früher hast du in Mehrbettzimmern von Jugendherbergen übernachtet, heute regst du dich auf, wenn dein Zimmer im Fünf-Sterne-Hotel nicht groß genug ist. Du empfindest Essen, das nicht höchstes Niveau hat, plötzlich nicht als würdig.“
Wäre nicht Russland aus der IAAF ausgeschlossen worden, würde Digel noch in diesem Jahr als Organisationsdelegierter die U20-Weltmeisterschaft in Kasan mit vorbereiten.
1993 brauchte der Deutsche Leichtathletik-Verband Digel als Nachfolger für Präsidenten Helmut Meyer, ein Gesicht für den Mentalitätswandel. Mit dem Soziologen aus Tübingen wollte er Doping aus Staatsräson und als Kavaliersdelikt hinter sich lassen. Schließlich akzentuierte der Skandal um die gedopte Katrin Krabbe und ihren Trainer Thomas Springstein damals nur die Erkenntnis, dass die Leichtathletik in Ost wie in West in eine Geschichte des Dopings verstrickt war.
Digel erwies sich als mutig und unkonventionell. Er warnte seine Athleten davor, den Freiburger Mediziner Armin Klümper zu konsultieren, den er für verantwortlich hielt am Tod der Siebenkämpferin Birgit Dressel 1987. Und er verteidigte den aus dem DDR-Sport stammenden, von seinem Vorgänger eingestellten Cheftrainer Bernd Schubert.
Zwei Jahre später wählte die Vollversammlung der Leichtathletik-Verbände Digel ins Council der IAAF; für die Wiederwahl des Präsidenten Primo Nebiolo reichte damals Applaus. Digel, 51 Jahre alt, sah sich bald auf dem Sprung an die Spitze, als dessen Nachfolger. Der Fall Baumann und der Kampf der Deutschen für ihn, der positive Befund des Olympiasiegers 1999 und Digels Beharren auf die Unschuldsvermutung begruben seine Chance, die Kernsportart Olympias zu führen und IOC-Mitglied zu werden.
Digel wirkt geschlagen. Längst hat er eingeräumt, dass der Kampf gegen Doping gescheitert sei. „Wir stehen dem ohnmächtig gegenüber und singen nach außen hin das Hohelied der Leichtathletik“, sagte er zwei Wochen nach der WM von Peking im Interview der F.A.Z. „Ich muss konstatieren, dass ich zwei Jahrzehnte lang Teil einer Heuchelei war.“
Nun weiß er, dass er Teil einer Organisation war, für die noch dazu Korruption zum Geschäft gehörte.
Hätte er damals nur für Schlagzeilen gesorgt.
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Donnerstag, dem 25. Februar 2016
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