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20
06
2011

Vor 200 Jahren gründete Friedrich Ludwig Jahn die Turnbewegung – seine Leistung ist heute umstritten

Kleiner Krieg in der Hasenheide – Turnvater im Wald. Das Friedrich-Ludwig-Jahn-Denkmal in der Hasenheide erinnert auch an den ersten Turnplatz in Deutschland. Friedhard Teuffel im Tagesspiegel

By GRR 0

Achtung, vermintes Gelände! Zu sehen sind zwar gerade nur ein paar Kleinkriminelle, die im Dickicht Drogen verkaufen, aber in der Hasenheide liegt noch genügend politische Streumunition herum. Vor 200 Jahren gründete hier Friedrich Ludwig Jahn den ersten deutschen Turnplatz, es war der Beginn der Turnbewegung, und wenn man sich heute die fünf Millionen Mitglieder im Deutschen Turner-Bund ansieht, könnte man von einer grandiosen Erfolgsgeschichte sprechen.

Wenn da nicht ihr Gründer wäre mit seinen Ansichten, und deshalb muss man schon mal in Deckung gehen vor Nazivergleichen und Antisemitismusvorwürfen.

Der Hilfslehrer Jahn hatte 1811 mit Jugendlichen und Männern Sport getrieben, erstmals in aller Öffentlichkeit, in der Hasenheide, vor den Toren Berlins.

Auf seinem ersten Turnplatz ließ Jahn unter anderem ringen, laufen, an Gerüsten klettern, und den „kleinen Krieg“ üben mit Patrouillen und Überfällen. Bis zu 1000 Schaulustige zog dieses Turnen an, und im „Morgenblatt für gebildete Stände“ erschien 1811 ein Bericht, in dem es hieß: „Wir haben jetzt ein verkleinertes Bild von den Olympischen Spielen vor dem Hallischen Thore.“

Schon im zweiten Jahr nahmen 500 Turner an den Übungen teil. Die vier F, die heute das Turnkreuz bilden, waren Jahns Motto: „frisch, fromm, fröhlich, frei.“ Jahn dachte, er habe mit dem Begriff Turnen ein urdeutsches Wort für seine Leibesertüchtigung ausgewählt, hatte dabei jedoch die lateinische Herkunft übersehen.

Eine Feierstunde hat am Samstag in der Hasenheide zwar stattgefunden, wo Jahn auf dem Sockel steht, aber gefeiert wurde mehr das Turnen als sein Vater. „Wir wollen Jahn nicht zu sehr in den Vordergrund rücken. Personenkult ist der falsche Ansatz für uns“, sagt Dieter Donnermeyer, der Grundsatzreferent des Deutschen Turner-Bundes (DTB). „Jahn hat dafür gesorgt, dass körperliche und geistige Entwicklung in Zusammenhang gebracht werden“, so viel will der DTB Jahn noch zugestehen.

Der Verband hat sich von Jahn emanzipiert und auch von den politischen Auswüchsen der Turnbewegung, die zu oft der Obrigkeit hörig war und im Nationalsozialismus zu den ersten Organisationen gehörte, die ihre jüdischen Mitglieder ausschloss.

Nicht nur das gute Turnen, sondern auch diese verhängnisvolle Entwicklung soll mit Jahn begonnen haben, der seine Übungen zu sehr mit der Wehrhaftigkeit verbunden hätte, Nationalist, Antidemokrat und vielleicht auch Judenverachter gewesen sei, lautet der Vorwurf. Dass Jahn dann auch noch in der DDR gerühmt wurde, etwa mit Stadionbenennungen nach ihm, machte ihn beim DTB in Frankfurt am Main umso verdächtiger.

Doch solche Ansichten bleiben nicht unwidersprochen. Eine „Angst, sich zu sehr mit Jahn zu beschäftigen“, hat der Berliner Sporthistoriker Gerd Steins festgestellt, er ist Präsident des Forums für Sportgeschichte, des Fördervereins für das Sportmuseum Berlin.
„Political Correctness ist immer wichtiger geworden“, sagt Steins. Auf jeden Fall gibt es auch eine andere Sicht auf Jahn, Anfang der neunziger Jahre hatte sich daher eine Friedrich-Ludwig-Jahn-Gesellschaft gegründet, die sein Erbe pflegen will.

Es läuft eine Kontroverse. Hans-Jürgen Schulke etwa, ehemaliger Sportamtsdirektor von Hamburg, sieht Jahn nicht mehr als Turnvater, sondern rückt ihn sogar näher heran an die Turnfamilie. In der Mai-Ausgabe des „Jahn-Reports“ schreibt er: „Der fortschrittliche Turnbruder Jahn befindet sich mitten unter uns.“

Jahn, der Modernisierer, das ist seine These. Keine böse politische Linie, sondern eine gute sportliche zieht Schulke, der Hamburgs erfolglose Olympiabewerbung für 2012 koordinierte. Und Schulke führt, das wird dem DTB am wenigsten gefallen, alles, was den Deutschen-Turner-Bund heute im Guten abhebt, auf Jahn zurück.

Der Turnerbund ist heute schließlich der wohl modernste Sportverband. Weil er nicht nur Geräteturnen anbietet, sondern viele Bewegungsformen vereint, die im Trend liegen und zum Lifestyle gehören. Gesundheitssport, Laufen, Fitness, Tanzen. Um diese Aktualität im Namen zu tragen, hat sich zum Beispiel der Berliner Turnerbund in Turn- und Freizeitsport-Bund umbenannt.

Was 1811 in der Hasenheide an Sportangeboten existierte, vergleicht Schulke mit den Hochseilgärten und Fitnessstudios von heute. Es gab Klettergerüste und Spielplätze. Er widerspricht damit, hier wird es wieder politisch, der These des Turnplatzes als Exerzierplatz und Wehrlager: „Man näherte sich durchaus radikaldemokratischen und frühsozialistischen Positionen.“ Die Turner sprachen sich mit dem brüderlichen „du“ an, es galt eine einheitliche Turnkleidung, um Standesunterschiede aufzuheben, und wer den Mitgliedsbeitrag nicht bezahlen konnte, durfte sich davon befreien lassen. „Die Akteure empfanden den Turnplatz als Ort der Befreiung, der Selbstbestimmung, der Kreativität“, erklärt Schulke.

Die Leistung Jahns sieht er ebenso unterbewertet wie Gerd Steins
. „Es war das erste Mal Sport in Selbstorganisation, also vollkommen unabhängig vom Staat und das in Preußen“, sagt Steins. Damit ist der Turnplatz auch der Vorläufer des deutschen Vereinswesens. Ein Demokrat sei Jahn nicht gewesen. „Er wollte einen weisen König und eine weise Verfassung und mit dem Turnen ging es Jahn um die Wehrhaftmachung des Mannes, um das französische Joch abzustreifen.“ Die Befreiung von Napoleon. Doch dabei sei Jahn eher ein Macher, als ein Ideologe gewesen.

Und das Endergebnis lasse sich mehr als sehen: „Turnen lässt sich nicht eingrenzen. Turnen war damals und ist heute auch Leichtathletik, Spiel, Gymnastik. Unter dem Begriff Turnen stecken alle Spiele, die heute auf dem Markt sind.“ Nicht zufällig sei das Turnen mit Turnhalle, Turnschuhen und Turnbeuteln fast genauso sprachpräsent wie Sport. Angefangen hat das mit Jahn.

„Man kann niemand uneingeschränkt empfehlen, jeder hat eine Vergangenheit“, sagt Steins, „aber eine Person, die so umstritten ist, die sollte man sich unbedingt in Erinnerung behalten.“

Friedhard Teuffel im Tagesspiegel, Sonnabend, dem 18. Juni 2011

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