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Kinder-Doping in Deutschland – „Du bist ein Schwein“ – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
25.06.2013 · In Deutschland wurden nicht nur Nationalspieler systematisch gedopt, sondern in großem Stil auch Kinder. Das belegt eine aktuelle Studie. Vor allem Freiburg entwickelte sich nach dem Krieg zu einer Doping-Hochburg.
Der Kinder-Doping-Fall Christel Justen in Aachen ist kein Einzelfall im westdeutschen Sport gewesen. So wie der Schwimm-Europameisterin von 1974 mit vierzehn Jahren von ihrem Trainer Anabolika verabreicht wurden, so sind bereits früher Mädchen und Jungen im Spitzensport der Bundesrepublik gedopt worden.
Das ist dem Band „Doping in Deutschland: Geschichte, Recht, Ethik 1950 – 1972“ von Giselher Spitzer zu entnehmen, der in diesen Tagen erscheint.
Der Berliner Historiker zitiert darin einen ehemaligen Sportler, der laut eigener Aussage Ende der sechziger Jahre einem Trainer vorwarf: „Du bist ein Schwein, im Grunde, weil du ein vierzehnjähriges Mädchen, weil du sechzehnjährige Jungens und die gesamte Mannschaft ansonsten mit Doping-Mitteln versorgst.“ Anders als in Fällen von Hormon-Doping Minderjähriger im DDR-Sport, deren Enthüllung überwiegend auf geheimen Aufzeichnungen des Staatssicherheitsdienstes oder von Sportwissenschaftlern basierten, handelt es sich in diesem Fall um ein Zeitzeugengespräch.
Es kam nur zustande unter der Zusicherung größtmöglicher Anonymität. Weder der Täter noch dessen Opfer sind benannt. Der Zeitzeuge wird lediglich als „nicht nur auf nationaler Ebene herausgehobener Athlet“ und späterer Trainer beschrieben. Spitzer nennt weder den Ort des Geschehens noch die Sportart.
In der jungen Bundesrepublik war Pervitin das Mittel der Wahl
Der ehemalige Athlet erlebte laut eigener Beschreibung, wie sich Sechzehnjährige in der Umkleidekabine darüber austauschten, welche Pillen ihnen der Trainer gegeben habe und welche nicht. Altersangaben und Hinweise auf die Existenz von Mannschaften deuten auf Jugendliche aus dem Schwimmsport hin. Das passt zu der Dokumentation über Minderjährigen-Doping im Schwimmsport der DDR.
Hüben wie drüben wurden Kinder unter Stoff gesetzt. Christel Justen bestätigte 1993, dass Trainer Claus Vandenhirtz ihr ohne ihr Wissen Dianabol verabreicht hatte; Justens Vater ließ die Pillen analysieren und die Praxis unterbinden. Erstmals habe sie das Doping-Mittel mit vierzehn Jahren erhalten; demnach muss die Vergabe 1971 oder 1972 erfolgt sein. Christel Justen starb 2005 im Alter von 47 Jahren.
In dem Buch, dem ersten Teil der vieldiskutierten Studie „Doping in Deutschland: Geschichte, Recht, Ethik 1950 – 1972“, wird erweitert beschrieben und belegt, was die Forschergruppe der Humboldt-Universität Berlin 2010 mündlich vorstellte: dass die Forschung mit Aufputschmitteln in der Nazizeit ohne Bruch in der jungen Bundesrepublik fortgesetzt wurde; Pervitin, im Krieg in Panzerschokolade und Stuka-Pille an Piloten verteilt, war das Mittel der Wahl.
„Ich glaube, Freiburg würde einen guten Kristallisationspunkt abgeben, um von hier aus wieder aufzubauen“, schrieb 1946 der Sportmediziner Herbert Reindell einem Mitarbeiter, wie Erik Eggers zitiert.
In Deutschland entwickelte sich eine Doping-Mentalität
Unter Reindell entstand in Freiburg eine Doping-Hochburg, die eine Doping-Mentalität in Westdeutschland entwickelte, die heute noch Blüten treibt. Eggers weist nach, dass einige der Helden von Bern 1954 Aufputschmittel intus gehabt haben dürften – sie waren damals nicht verboten, und es gab keine Kontrollen. Auch Hermann Buhl nutzte bei seiner Erstbesteigung des Nanga Parbat im Jahr zuvor die Wirkung.
Hans-Günther Winkler flog 1956 nicht nur auf seiner Wunderstute Halla zum Olympiasieg, sondern auch auf der benebelnden Wirkung von Morphium. Trainer Max Merkel verabreichte 1961 seinen Spielern bei Borussia Dortmund Amphetamin zur Leistungssteigerung, und bei der Fußball-WM 1966 in England gab es wohl Doping-Fälle im deutschen Team, die nie publik wurden. Der anonyme Kinder-Doper verteidigte sich seinerzeit mit der Behauptung: „Für die Leute ist es eine phantastische Hilfe, aber für dich sind diese Mittel überhaupt nicht geeignet.“ Dann erkundigte er sich, ob der Athlet seinen Vorwurf öffentlich machen wolle.
Die ehemalige Schwimm-Weltrekordlerin Christel Justen erhielt als Kind ohne Wissen Dianabol
Dieser scheute die öffentliche Kontroverse, weil er keine Beweise vorzeigen konnte. Zwei bekannte Sportmediziner und ein berühmter Athlet, so sagte er damals, stützten die Doping-Praxis, zudem habe der Trainer gute Verbindungen zur Presse: „Dieses Thema wird immer zu meinen Ungunsten in der Öffentlichkeit ausgehen.“
Der Vorfall dient Spitzer als Beispiel dafür, dass Doping-Gegner in der Bundesrepublik geringe Chancen hatten, ihre Beobachtungen anzuprangern. Spitzers Zeitzeuge suchte vielmehr Rat bei Hochschullehrern, die ihn offenbar vor den Nebenwirkungen von Hormon-Doping warnten – Niereninsuffizienz, Leberschäden – und ihm zum Vereinswechsel rieten.
Wie der Trick funktioniert
Spitzer folgert aus diesem Verhalten und dem Umstand, dass sein Zeitzeuge als Mitglied eines neuen Klubs noch einmal (west-)deutscher Meister wurde, dass es „einen heimlichen Kampf in der Nationalmannschaft der Bundesrepublik zwischen „Anabolika-Nutzern und Doping-Verweigerern“ gegeben habe. Einen solchen Widerstreit habe es in den Olympiamannschaften 1968 in Mexiko und 1972 in München gegeben. Zu jener Zeit etablierte sich im westdeutschen Sport offenbar ein „Neusprech“, wie es George Orwell in seinem Totalitarismus-Roman „1984“ beschreibt.
Spitzer weist es am Beispiel eines Vortrags „Wirkungen anaboler Steroide“ nach, zu dem der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) sieben Wochen vor den Olympischen Spielen von Mexiko, im August 1968, einen tschechischen Sportmediziner nach Berlin einlud. Nur für diesen Vortrag reiste seinerzeit DLV-Präsident Max Danz an, ein Mediziner. Der Trick funktioniert so: Schonungslos nennt der Referent den Einsatz von Anabolika-Doping; es sei nachweisbar und habe möglicherweise schädliche Nebenwirkungen. Deshalb sei von der Anwendung abzuraten. Zugleich aber beschreibt der Mediziner die positiven Erfahrungen mit Anabolika.
Diese Verquickung unvereinbarer Widersprüche sei in Wirklichkeit die erste nachweisbare Anwendungskonzeption für Hormon-Doping im Sport der Bundesrepublik, schreibt Spitzer. Das war etwa ein Jahrzehnt nachdem Reindell eine Arbeit über die „Wirkung von Dopingmitteln auf den Kreislauf und die körperliche Leistung“, bereinigt um die Beschreibung der gravierenden Nebenwirkungen von Coffein, Veriazol, Strychnin und Pervitin auf gesunde Athleten, veröffentlichte. Das schreibt Holger J. Schnell in der Studie.
Demnach hat Reindell gleichzeitig die nachgewiesenen Leistungssteigerungen spekulativ erhöht und lediglich vor ungünstigen Nebenwirkungen gewarnt. Die „Totalisierung des Leistungssports“ führte laut Schnell in die Doping-Forschung und -Anwendung, von Reindells Forschungsfragen bis zu der wissenschaftlich gestützten Doping-Praxis unter Joseph Keul, die in Freiburg erst mit der Enthüllung der Manipulationen des Teams Deutsche Telekom endeten.
Wäre die Idee der Menschen- oder Persönlichkeitsbildung durch Sport verbindlich geblieben, und nicht, wie Schnell an der Charta des Deutschen Sportbundes von 1966 nachweist, durch Forderungen nach nationaler Vertretung und optimierter Leistung unterlaufen worden, hätte das System Freiburg nicht entstehen dürfen. So aber wurde sein Entstehen gefördert.
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Dienstag, dem 25. Juni 2013