KIM GEVAERT – Eine Königin tritt ab – Jörg Wenig in \“leichtathletik\“ – „Das van Damme Memorial ist immer etwas besonderes für mich gewesen.\“
Der emotionale Höhepunkt des 32. Memorial van Damme-Meetings in Brüssel kam für die 47.000 Zuschauer weder beim 100-m-Rennen mit den Jamaikanern Usain Bolt und Asafa Powell noch bei der dramatischen Golden-League-Jackpot-Entscheidung im Hochsprung mit Belgiens Tia Hellebaut, Blanka Vlasic (Kroatien) und Siegerin Ariane Friedrich (Eintracht Frankfurt). Es war vielmehr der Abschied von Kim Gevaert.
Die Sprinterin hatte seit Jahren die Herzen der Belgier erobert und mit ihren Erfolgen der Leichtathletik in ihrem Land einen enormen Aufschwung beschert. Kim Gevaert konnte sich bei ihrem Heim-Meeting standesgemäß verabschieden: mit einem Sieg über 100 Meter.
Als Kim Gevaert beim 100-m-Lauf vorgestellt wurde, kam der Sprecher kaum dazu, ihren Namen anzusagen – so groß war der Jubel um die Sprinterin. Eine Vorstellung wäre eigentlich auch gar nicht notwendig gewesen, denn es sah nicht so aus, als ob irgendjemand im Stadion nicht wüsste, wer da am Start steht. Meeting-Direktor Wilfried Meert hatte es in den letzten Jahren immer wieder verstanden, belgische Athleten und speziell Kim Gevaert perfekt in Szene zu setzen.
Dieses Mal nun hatte er von den Namen her kein schlechtes internationales 100-m-Feld zusammengestellt. Es waren aber Gegnerinnen, die die 30-jährige Gevaert schlagen konnte. 11,25 Sekunden reichten schließlich zum umjubelten Abschieds-Sieg vor Debbie Ferguson-McKenzie (Bahamas/11,32) und Me’Lisa Barber (USA/11,37). Ob alle ihr letztes gegeben haben, um Kim Gevaert zu schlagen, lässt sich allerdings nicht mit Sicherheit sagen.
„Das van Damme Memorial ist immer etwas besonderes für mich gewesen. Es gab am Ende der Saison keine größere Belohnung als hier zu starten“, erzählte Kim Gevaert, nachdem sie nach diversen Ehrungen und TV-Interviews schließlich eine gute halbe Stunde später als angekündigt im Pressekonferenz-Raum angekommen war. „Ich hätte mich den Zuschauern gegenüber schuldig gefühlt, wenn ich heute nicht gewonnen hätte. Als ich heute morgen aufwachte, habe ich mich gut und locker gefühlt. Vor dem Start musste ich dann die richtige Balance finden zwischen Konzentration und Freude.“
„Meine Karriere war nicht immer perfekt, aber sie war schön und ich bin sehr zufrieden mit dem Verlauf“, sagte Kim Gevaert, die in Peking ihre erste olympische Medaille gewonnen hatte. Bei Olympia hatte sie die 4×100-m-Staffel als Schlussläuferin zur nie erwarteten Silbermedaille geführt. Schon vor zwei Jahren hatte Kim Gevaert ein Stück belgische Sportgeschichte geschrieben, als sie bei den Europameisterschaften sowohl die 100 als auch die 200 m gewann (vier Jahre zuvor war sie in München jeweils Zweite).
Es waren die ersten Goldmedaillen für eine belgische Frau bei einer großen internationalen Leichtathletik-Meisterschaft. Gut einen Tag nach ihrem 100-m-Triumph war damals das Brüsseler van Damme Memorial ausverkauft. Damals wie auch in diesem Jahr nach Peking hätte Wilfried Meert mindestens 10.000 weitere Tickets verkaufen können, so groß war das Interesse. „Ich habe mir damals zweimal überlegt, ob ich auf die Straße gehe, weil immer sofort viele Menschen auf mich zuströmten, um mir zu gratulieren“, erzählte Kim Gevaert damals. Durch ihre Erfolge hat sie viele junge Mädchen in Belgien zur Leichtathletik gebracht.
Als sie selbst klein war, hatte Kim Gevaert mit Leichtathletik noch nicht viel im Sinn. Als Siebenjährige hatte sie stattdessen mit dem Klavierspielen begonnen und galt auch hier als talentiert. „Ich habe immer noch ein Klavier zu Hause und spiele manchmal.“ Als 15-Jährige kam sie schließlich zur Leichtathletik. Ihr zwei Jahre älterer Bruder Marlon, der selbst Sprinter war, heute als Trainer arbeitet und lange Zeit ihr Trainingspartner war, hatte sie mitgenommen. „Bei meinem ersten Rennen hatte ich keine Ahnung, wie man einen Startblock einstellt. Marlon hat es dann für mich gemacht, obwohl das gegen die Regeln verstieß“, erzählt Kim Gevaert, die von Rudi Diels trainiert wurde.
Kontinuierlich hatte sich Kim Gevaert verbessert. Als 18-Jährige rannte sie die 100 m in 11,63 Sekunden, zwei Jahre später erreichte sie 11,40 und dann als 23-Jährige 11,26. 2002 gewann sie ihren ersten großen Titel bei der Hallen-EM über 60 m. Im Jahr ihres EM-Doppelsieges in Göteburg erreichte sie ihre Bestzeit von 11,04 Sekunden mit einem maximal erlaubten Rückenwind von 2,0. 11,05 sprintete Kim Gevaert, deren Vorbild die Russin Irina Privalova war, 2007 und 2008. „Ich habe sie bewundert für ihre Vielseitigkeit, denn sie lief auch die 400 Meter Hürden und kam nach der Geburt ihres Kindes noch einmal zurück“, erzählt Kim Gevaert, die jetzt selbst Kinder haben möchte und deswegen ihre Karriere beendete.
„Ich habe noch nicht richtig realisiert, was jetzt passiert ist. Es war einfach zu viel los. In ein paar Wochen, nach einem Urlaub, werde ich ein anderes Gefühl haben als dann ehemalige Athletin“, sagt Kim Gevaert. Auf die Frage, ob sie für die nächste Zeit noch einen Trainingsplan hat, antwortet sie: „Nein, das würde sich mein Trainer nicht trauen! Aber ich will fit bleiben und zum Beispiel Tennis spielen. Und ich möchte gerne unsere 4×100-Meter-Staffel weiter unterstützen.
Ich kann mir vorstellen, auch beim Training zu helfen.“
Jörg Wenig in "leichtathletik" vom 10. September 2008, Nr. 37
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