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30
05
2022

„Das Grundschulalter ist das goldene Lernalter für koordinative Fähigkeiten, ein Zeitfenster für bestimmte Trainingsanreize“, sagt Kerstin Holze. - Foto: Horst Milde

Kerstin Holze im Interview: „Sport ist nicht nice to have, Sport ist unverhandelbar“ – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

Kerstin Holze ist Kinderärztin und Vizepräsidentin des DOSB. Im Interview spricht sie über frisches Geld aus der Politik, das Konzept zNutzung der Mittel und Lernlücken im Sport durch die Pandemie.

Der Haushaltsausschuss des Bundestages hat rund 500 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, ganz überwiegend für die Sportstättensanierung. 25 Millionen werden für den Neustart des Breitensports nach der Pandemie bereitgestellt. Zugleich verlangen die Parlamentarier, Innenministerium (BMI) und organisierter Sport sollten ihre Hausaufgaben machen, das heißt: ein Konzept vorlegen. Haben Sie das mit den Eckpunkten erledigt, die der DOSB am vergangenen Dienstag veröffentlicht hat?

Ich freue mich und bin dem Bundestag dankbar, dass es gelungen ist, die unbedingt erforderlichen Bundesmittel für die Bewegungsförderung und den Breitensport im Bundeshaushalt zu verankern. Dies stellt eine wichtige Unterstützung für unsere 90.000 Sportvereine dar. Erstmalig investieren die Parlamentarier damit Mittel in bedeutendem Maß in das so wichtige Ziel, Deutschland nach zwei Jahren Pandemie wieder in Bewegung zu bringen. Aber das Konzept für den Neustart nach Corona sind die Eckpunkte nicht.

Sondern?

Wir müssen zwischen der kurz- und der langfristigen Perspektive unterscheiden. Kurzfristig geht es beim Neustart nach Corona darum, die Vereine zu unterstützen, um gut aus der Pandemie zu kommen. Mit unserem Eckpunktepapier beschreiben wir anzugehende Herausforderungen und setzen Impulse, damit unser Land mittel- und langfristig bewegter und gesünder wird. Dafür ist ein Perspektivwechsel auf Seiten der Politik notwendig, beispielsweise mit der Etablierung einer Staatsministerin oder eines Staatsministers für den Sport im Bundeskanzleramt. Sport ist Querschnittsthema und muss Eingang in politisches Handeln quer durch alle Ministerien finden.

Der Sport will den Bund umfassend in die Verantwortung nehmen, nicht allein für die Spitzensportförderung. Warum?

Wir haben alle während der Pandemie wie durch ein Brennglas gesehen, wie wichtig Sport und Bewegung für die Gesellschaft sind, aber trotzdem nicht gehört und berücksichtigt wurden. Das soll sich ändern. Mit der Einladung zur gemeinsamen Erarbeitung eines Entwicklungsplans Sport, wie es im Koalitionsvertrag steht, streckt die Politik die Hand aus. Wir ergreifen sie mit den Eckpunkten.

Schafft der Bund mit 476 Millionen Euro für kommunale Sportstätten, die er auf Verpflichtungsermächtigungen von einer Milliarde Euro für die nächsten fünf Jahre drauflegt, so etwas wie einen kleinen Goldenen Plan?

Der DOSB sowie alle Fachleute konstatieren seit Jahren einen großen Investitionsstau bei den Sportstätten. Es ist dringend nötig, dass wir da vorankommen, denn Sport und Bewegung brauchen Raum, funktionierenden Raum. Ich begrüße jede Investition in diesem Bereich. Sie, wie hier, mit der energetischen Sanierung zu verknüpfen, ist ein Schritt in die Zukunft. Dies ist ein guter Start und wird nicht das Ende der Fahnenstange sein können. Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, wenn die Förderung weiterhin nur auf kommunale Einrichtungen beschränkt bleiben sollte und damit für vereinseigene Sportstätten – inzwischen immerhin ein Drittel des Gesamtbestandes in Deutschland – keine Bundesförderung beantragt werden kann.

Warum sperren die Haushälter die 25 Millionen Euro bis zum Vorliegen eines Konzepts und lassen anklingen, Sie hätten Ihre Hausaufgaben nicht gemacht?

Investitionen in den Breitensport in dieser Höhe sind ein Novum. Da gibt es viele offene Fragen. Regierung, Parlament und wir haben gut zusammengearbeitet. Das war die Voraussetzung dafür, dass dieses Geld überhaupt zur Verfügung gestellt wird. Wir werden partnerschaftlich mit dem BMI ein stimmiges und effizientes Umsetzungskonzept entwickeln, damit wir einen wirksamen Beitrag leisten können, dieses Land nach den vergangenen zwei Jahren vielfältig wieder in Bewegung zu bringen.

Was soll passieren?

Ein Ansatz ist es, über den Anreiz mit Startergutscheinen die Menschen zurück in die Vereine zu bringen – ein Modell, das sich in Hamburg bewährt hat. Der aus meiner Sicht wichtigster Schwerpunkt ist jedoch die Ausbildung von Trainerinnen und Trainern sowie Übungsleiterinnen und Übungsleitern. Sportvereine haben nicht nur Aktive verloren und Übungsleiter, sondern auch das System als solches hat gelitten. Die Zahl der Ausbildungen ist eingebrochen, 2020 um 37 Prozent. Im Jahr 2021 stiegen die Ausbildungen zwar wieder um zehn Prozent, aber wir haben jetzt einen Ausbildungsstau. Dieser Stau trifft auf ein Sportsystem, das schon vor der Pandemie an seine Grenzen kam. Ausbildung und Qualifikation sind das, was Trainer und Übungsleiter im Verein halten. Wir brauchen also eine massive Ausbildungsoffensive. Dafür werden wir Präsenz-Angebote machen, aber auch unsere Digitalangebote verbessern und ausweiten. Wiederbelebung allein reicht nicht. Wir werden die Ausbildung neu aufstellen müssen. Gerade in Flächenländern ist die Digitalisierung dabei eine echte Chance.

Stimmt es, dass gerade die kleinen und mittleren Vereine von der Treue und Loyalität ihrer Mitglieder profitiert haben und die schlimmen Prognosen vom Anfang der Pandemie sich nicht bewahrheitet haben?

Der Mitgliederschwund, der die großen Vereine stärker betraf, ist mittlerweile gestoppt. Wir sind aber noch nicht wieder auf dem Niveau von vor der Pandemie. Wir wollen die positiven Aspekte des Sporttreibens daher stärker in der Öffentlichkeit verankern und den Nutzen für unsere Gesellschaft herausstellen.

Eine Werbekampagne?

Eine Kampagne ist geplant und wichtiger Bestandteil des Paketes. Es geht darum, unser Anliegen, Deutschland in Bewegung zu bringen, mit mehr Substanz und mehr Gemeinschaftlichkeit zu hinterlegen. Es geht also neben der Gewinnung von Mitgliedern und Engagierten auch um die Sichtbarkeit der individuellen und sozialen Mehrwerte von Sport und Bewegung, insbesondere im Verein.

Die Haushälter haben offenbar ziemlich konkrete Vorstellungen von dem, was sie wollen…

Die Interessen decken sich.

Ihnen liegen besonders die Kinder am Herzen. Was kommt nach dem Milliardenprogramm „Aufholen nach Corona für Kinder und Jugendliche“?

Wir erwarten eine umfangreiche Ausstattung des im Koalitionsvertrag angekündigten „Zukunftspakets für Bewegung, Kultur und Gesundheit“.

Müssen Eltern und Vereine ausgleichen, was Schulen versäumt haben?

Irgendjemand muss es ausgleichen. Natürlich kann und soll man Eltern und Vereine animieren, dies zu tun. Aber nach zwei schwierigen und herausfordernden Pandemiejahren prasseln auf Eltern jetzt vorrangig Informationen ein wie: ‚Klassenziel nicht erreicht‘, ‚dieser Standard nicht erreicht‘, ‚ein oder zwei Schuljahre verloren‘… In einer solchen Situation sollen Eltern dann auch noch von sich aus im Blick behalten, wie wichtig Sport ist und sich darum kümmern, dass ihre Kinder ihn treiben können? Der Sport hat in den vergangenen zwei Jahren gelitten und arbeitet daran, sich wieder aufzustellen. Das ist extrem wichtig. Wenn wir aber alle Kinder erreichen wollen, müssen wir den Sport in die Schulen tragen. Dort wo alle Kinder sind!

Schulen arbeiten daran, Lernlücken aus der Pandemie aufzuarbeiten. Haben sie nicht genug mit Bio, Mathe, Deutsch zu tun? Gibt es überhaupt Lernlücken im Sport?

Auf jeden Fall. Der Sport ist, wenn man es genau nimmt, sogar mehr betroffen als die sogenannten Kernfächer. Wir hatten in Lockdown eins und Lockdown zwei ein, wenn auch oft nicht optimales, Homeschooling-Angebot für Fächer wie Mathe, Deutsch und Bio. Beim Homeschooling für Sport klaffte eine Riesenlücke. Es gab ein paar engagierte Lehrer, die versucht haben, Sport anzubieten. Aber die meisten Kindern hatten keinen Schulsport und sie hatten keinen Vereinssport. Die qualifizierten Bewegungsangebote sind also doppelt ausgefallen.

Jetzt geht es doch wieder los.

Das Grundschulalter ist das goldene Lernalter für koordinative Fähigkeiten, ein Zeitfenster für bestimmte Trainingsanreize. Wenn wir das verpassen, weil während vier Jahren Grundschulzeit zwei Jahre Pandemie herrschte, entsteht eine Riesenlücke. Wenn unsere Kinder nicht in jungen Jahren ein Rhythmusgefühl entwickeln, wenn sie nicht komplexe Bewegungsabläufe wie schwimmen, turnen, und Grundlagen der Leichtathletik lernen, ist das später viel, viel schwerer nachzuholen und meist auch nicht mit dem gleichen Ergebnis.

Bei Fremdsprachen ist das vielen geläufig: Je früher man sie lernt, desto einfacher. Mit motorischen Grundlagen ist es genauso. Deshalb sollten wir Sport als Querschnittsthema in der Breite der Gesellschaft etablieren, als Teil von psychisch und physisch gesundem Aufwachsen.

Sport ist nicht nice to have, Sport ist unverhandelbar.

Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Freitag, dem 27. Mai 2022

 

Michael Reinsch

Korrespondent für Sport in Berlin.

author: GRR