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09
04
2013

2012 Kenya Kenya February 2012 Photo: Giancarlo Colombo@Photo Run Victah1111@aol.com www.photorun.NET

Kenia: Nicht alle kommen mit dem Erfolg klar. Steil nach oben und nach unten – Jürg Wirz in CONDITION

By GRR 0

Alle haben das gleiche Ziel: Sie wollen der Armut davonlaufen. Den einen gelingt es, den anderen nicht. Viele Topläufer verschwinden nach kurzer Zeit bereits wieder von der Bildfläche, nachdem sie die ersten paar Tausend Dollar verdient haben.

Oder sie können mit dem vielen Geld nicht umgehen und verlieren es mit Frauen, Autos und Alkohol. Samson Kimobwa, Kenias erster Weltrekordhalter über 10.000 m im Jahre 1977, bewegte sich nur einen
Sommer lang auf den Bühnen der internationalen Leichtathletik. Heute ist er ein gewöhnlicher Grundschu-llehrer mit einem Monatseinkommen von etwa 300,- Franken und daneben ein kleiner Provinzcoach.

Sein Nachfolger war der große Henry Rono. Wenn es jemals einen Menschen gab, der zum Laufen geboren war, er war es. Henry Rono, aufgewachsen wie viele andere Weltklasseläufer in der Kleinstadt Kapsabet im Nordwesten des Landes, schaffte im Jahre 1978, was nie einem Läufer vor oder nach ihm gelungen war:

Rono verbesserte innerhalb von 81 Tagen vier Weltrekorde auf vier verschiedenen Distanzen:
3.000 m, 5.000 m, 10.000 m und 3.000 m Hindernis.

Betrunken – und dann Weltrekord

Der Mann, der mit Erfolg der Armut in seinem Land davongelaufen war und mit einem Stipendium an der Washington State University studierte, war mit der neuen Situation überfordert. Er begann zu trinken, zuerst nur wenig, dann immer mehr. Am 12. September 1981 becherte er wieder einmal die halbe Nacht lang. Als er am nächsten Morgen aufwachte, hatte er einen bösen Kater. Er ging eine Stunde laufen und legte sich nach dem Mittagessen nochmals aufs Ohr.

Am Abend verbesserte er im Stadion von Knarvik in Norwegen mit einer 56-s-Schlussrunde seinen eigenen 5.000-m-Weltrekord. Doch danach bestimmte der Alkohol Ronos Leben immer mehr. Er fiel immer tiefer, war eine Zeit lang obdachlos und in unzähligen Rehabilitationszentren.

Er verlor Hunderttausende von Dollars, viele Jobs und Freunde. Nächtelang saß er in Bars und trank sein Lieblingsbier, Budweiser. „Ich saß jeweils dort, bis die Bar geschlossen wurde.“ Heute kann Henry Rono darüber reden, denn seit einigen Jahren ist er trocken. Heute arbeitet er in Albuquerque (New Mexico) an einer Schule für Kinder mit Lernschwierigkeiten und trainiert daneben auch einige Athleten. Er scheint das härteste Rennen seines Lebens gewonnen zu haben.

Und dann gab es Richard Chelimo, vielleicht das größte Langstreckentalent der frühen 90er-Jahre: Juniorenweltmeister 1990 über 10.000 m, ein Jahr später – mit 19 – WM-Zweiter, 1992 Olympiazweiter und mit 21 Jahren Weltrekordinhaber. Mit 23 Jahren war seine Zeit bereits vorbei.

Es heißt, seine Liebe zu Chang’aa, diesem hochprozentigen lokalen Gebräu, sei stärker gewesen als der Wille, einer der ganz Großen zu werden. Mit 28 starb Chelimo. Offizielle Todesursache: Hirntumor. Inoffizielle Begründung: Aids.

Neun Monate vor seinem Tod hatte ich ihn in Chesubet in den Cherangani-Hills besucht. Eine kleine Farm im Niemandsland. Kein Strom, kein Wasser, keine Kanalisation. Dort lebte er zurückgezogen mit seiner Frau und drei Kindern. Richard Chelimo kam gerade von der Dorfbar, obwohl es erst morgens um 11 Uhr war. Er
sah aus wie 40, mit aufgedunsenem Gesicht und blutunterlaufenen Augen. Und dabei war er erst 27.

Ein anderes Opfer des Alkohols: William Sigei. 1994 lief der Mann aus der Teemetropole Kericho in Oslo einen Weltrekord über 10.000 m, 1993 und 1994 wurde er Crossweltmeister. Zwei Jahre später war er weg vom Fenster.

Der Marathonmann, der schnell lief und schnell starb Samuel Kamau Wanjiru, der Marathon-Olympiasieger von 2008, war ein Mann der Extreme: ein extrem begnadeter Läufer und ein extrem unsicherer, junger Mann.

Am 16. Mai 2011 starb er durch einen Sturz vom Balkon seines Hauses. Auch mehr als ein Jahr nach
seinem Tod ist unklar, ob es ein Unfall war oder Mord. Die letzten polizeilichen Ermittlungen, die publik wurden, gingen von einem Unfall aus. Doch jetzt hat der niederländische Journalist Frits Cinjin ein Buch geschrieben, das die Unfallthese mithilfe eines medizinischen Experten aus Alkmaar anzweifelt.

Dr. Frank van de Groot sah sich zahlreiche Fotos des Toten an, sprach mit verschiedenen Leuten und ging
auch alle Obduktionsberichte durch. Seine Schlussfolgerung: „Die Verletzungen können meines Erachtens
nicht alle vom Sturz herrühren. Die Wahrscheinlichkeit ist sehr groß, dass Wanjiru mit einem harten Gegenstand auf den Kopf geschlagen wurde, bevor oder nachdem er in die Tiefe stürzte.“ Fortsetzung folgt.

Vielleicht wird die Wahrheit erst dann ans Licht kommen, wenn den Kronzeugen das Geld ausgeht. Vielleicht auch nie. Wir werden auch nie wissen, ob Samuel Wanjiru sein großes Potenzial wirklich hätte ausschöpfen können. Einige Anzeichen sprachen dagegen. Er hatte Probleme mit Alkohol und mit Frauen. Er verstand es nicht, mit dem vielen Geld umzugehen – allein an Start- und Preisgeldern kamen in den wenigen Jahren seiner Erfolge drei Millionen Dollar zusammen.

Wie sollte er auch? Er hatte das nie gelernt. Im „Kawa Falls“, seiner Lieblingsbar in Nyahururu, soll er oft
eine Runde nach der anderen ausgegeben, insgesamt umgerechnet bis zu 500,- € hingeblättert haben und dazu noch 80,- € oder 90,- € für den Kellner.

Es soll auch vorgekommen sein, dass er auf dem Gemüsemarkt die auf Zeitungen auf dem Boden ausgebreiteten Tomaten mit den Füßen zertrat und dann, als Zeichen, dass Geld für ihn keine Rolle spielte, ein paar Tausend Shilling hinwarf, 20,- € oder 30,- €.

Wanjiru war ein begnadeter Läufer, aber ein zynischer Mensch, für den alles käuflich war, nicht nur Häuser und Autos, sondern auch Frauen.

Als Wanjiru starb, hinterließ er nicht nur seine Frau Triza Njeri mit zwei kleinen Kindern, sondern auch drei
Geliebte: eine Läuferin namens Mary Wacera, mit der er ein sieben Monate altes Töchterchen hatte und die
bei seiner Mutter lebte, eine zweite, die angeblich von ihm schwanger war und die er am Abend vor dem Sturz noch besucht hatte, sowie eine Kellnerin aus dem „Kawa Falls“, mit der er von Ehefrau Triza wenige Stunden vor seinem Tod im eigenen Haus erwischt wurde. Auch ihr soll er die Ehe versprochen haben.

Cheseto, Ritekwiang und Ezekiel Kemboi

Eines der letzten Kapitel in der langen Geschichte von kenianischen Athleten, die mit ihrem Leben nicht fertig
wurden, schrieb Marko Cheseto, ein 28-Jähriger, der sich, nur mit Jeans und einer leichten Jacke bekleidet, im November des letzten Jahres, vom Uni-Campus in Anchorage (Alaska) aufgemacht hatte und erst mehr als zwei Tage später unweit eines Hotels wieder auftauchte – mit schwersten Erfrierungen.

Obwohl er umgehend ins Krankenhaus gebracht wurde, mussten dem erfolgreichen Läufer sieben Tage später beide Füße amputiert werden.

Es heißt, er habe seit dem Selbstmord seines Kollegen William Ritekwiang, der aus der gleichen kenia-nischen Stadt Kapenguria kam, an Depressionen gelitten und habe sich allein auf einen Trainingslauf gemacht und sich dann, mutlos und frierend, unter einen Baum gesetzt. Da sei er eingeschlafen.

Als er aufwachte, habe er in den Füßen kein Gefühl mehr gehabt. Er habe sich an einem Baum hochgezogen und es irgendwie geschafft, aus dem Wald zurückzufinden. Nach den Gründen für sein Weglaufen gefragt, sagte er, niemand habe verstanden, wie schwierig das Leben für ihn gewesen sei. Man habe ihm nur immer wieder gesagt, er solle sich durchbeissen.

Marko Cheseto ist inzwischen dabei, sein Diplom in Krankenpflege und Ernährung zu erlangen – mit Fussprothesen.

Wer in ärmlichen Verhältnissen im kenianischen Niemandsland aufwächst und sich fast über Nacht in der westlichen Welt wiederfindet, sei es in Japan oder den USA, erlebt oft einen Kulturschock. Es braucht mehr
als läuferisches Talent, um damit umgehen zu können. Im Falle von Cheseto mag auch ein anderer Grund
mitgespielt haben: Aus Altersgründen gehörte er nicht mehr dem Team an, das am Tag vor seinem Verschwinden von einem äußerst erfolgreichen Wettkampfeinsatz in Spokane, Washington, zurückgekehrt war.

Vorher war er jahrelang einer der Leader gewesen.

Das jüngste Beispiel: Ezekiel Kemboi, Hindernis-Olympiasieger von 2004 und zweifacher Weltmeister. Es geschah ein paar Tage nach den kenianischen Olympiaausscheidungen für London. Kemboi soll in einem Pub in Eldoret mit einer Frau namens Ann Njeri getrunken und ihr zu später Stunde angeboten haben, sie nach
Hause zu fahren. Bevor die beiden dort eintrafen, sei es zu einer Auseinandersetzung gekommen, weil sich
die Frau seinen Annäherungsversuchen widersetzte.

Darauf habe ihr Kemboi mit einem Messer in die Brust gestochen. Kemboi, dem nicht erst seit diesem Zwischenfall ein Hang zu Alkohol und Frauen nachgesagt wird, gab in der Polizeieinvernahme an, er sei von einer Bande, der auch die Frau angehörte, überfallen worden. Beim Versuch, sich zu wehren, sei die Frau verletzt worden.

Kemboi wurde gegen Kaution freigelassen und durfte mit dem Team nach London reisen. NOC-Präsident Kip Keino dazu: „Auch nach der Olympischen Charta gilt eine Person als unschuldig, bis ihre Schuld erwiesen ist.“

Seit Ende September muss sich Ezekiel Kemboi nun wegen Körperverletzung und versuchter Vergewaltigung
vor Gericht verantworten.

Aufstieg und Fall liegen in einem Land besonders nahe beisammen, wo die Diskrepanz zwischen Arm und Reich sehr groß ist, wo die Hälfte der Bevölkerung mit weniger als einem Dollar pro Tag auskommen muss, wo der Präsident aber mehr verdient als ein deutscher Minister und wo ein Talent zum Laufen ein Leben oft innerhalb weniger Jahre völlig auf den Kopf stellen kann.

Sobald die ersten Sonnenstrahlen am Horizont hervorblitzen, schlendern Dutzende junger Menschen in Eldoret, Iten, Nyahururu oder Kapsabet zu den örtlichen Sportstadien, allesamt angetrieben von der Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Und wenn sie sich dann einstellt, sind viele überfordert.

 

Jürg Wirz in CONDITION

 

CONDITION im Meyer & Meyer Sportverlag

 

Der lange Weg zum grossen Geld – Jürg Wirz in CONDITION

author: GRR

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