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30
04
2010

Ruth Radeck bringt es irgendwann selbst auf den Punkt: „Ich habe keene Angst vor gar nüscht mehr“, sagt sie im Dialekt ihrer Heimat, den sie auch nach Jahrzehnten im Süden nicht verloren hat, lächelt und nippt am lauwarmen Tee

„KEENE ANGST VOR GAR NÜSCHT“ – SIE MACHTE ALS „MARATHON-OMA“ FURORE, WEIL SIE MIT 79 JAHREN DEN MÜNCHEN-MARATHON MITLIEF UND FERNSEH-MODERATOR GÜNTHER JAUCH SIE ANSCHLIEßEND ZU „STERN-TV“ EINLUD. Martin Grüning in RUNNERS WORLD

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Aber Ruth Radeck ist viel mehr als nur eine ungewöhnlich aktive Seniorin: 

DIE LAUFSCHUHE VOR DER TÜR der Wohnung in Kempten sind uralt und -dreckig – unverkennbar ein Klassiker aus den Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts, mehrfach neu besohlt und löchrig. Die Wohnung ist klein, aber hell, sehr gemütlich eingerichtet, und vom Esstisch hat man über die Nachbarhäuser hinweg einen freien Blick Richtung Berge.

Ruth Radeck trinkt den Tee ohne Zucker, holt eine Mappe mit Zeitungsartikeln aus dem Wohnzimmerschrank und beginnt zu erzählen. Viel fragen muss man sie nicht. Wer 79 Jahre alt ist, hat eben eine Menge erlebt. Schnell merkt man, dass die gebürtige Schlesierin sehr viel mehr durchgemacht hat als einen Marathon. Und je weiter die Ereignisse zurückliegen, desto besser ist ihre Erinnerung. Stundenlang könnte man ihr zuhören, wenn Sie von den Entbehrungen des Krieges, einer langen Flucht, Armut, Hunger und Vertreibung berichtet – nicht, weil die Themen so erbaulich wären, sondern weil es nicht mehr viele Menschen gibt, die aus eigenem Erleben davon erzählen können.

Und, ja, Ruth Radeck kann wahrlich sehr anschaulich erzählen. Sie solle alles aufschreiben, hat ihr Enkel ihr schon oft gesagt. Recht hat er. „Ich werd’s tun“, wird sie zum Abschied sagen.

Kriegsgeneration nennt man Senioren in Ruth Radecks Alter. Während die alte Dame erzählt, wird einem schnell klar, dass der Bericht einer 79-Jährigen über Krieg und Hunger zwar weit entfernt vom Thema Marathon zu sein scheint, aber eben doch damit zusammenhängt. Ruth Radeck bringt es irgendwann selbst auf den Punkt: „Ich habe keene Angst vor gar nüscht mehr“, sagt sie im Dialekt ihrer Heimat, den sie auch nach Jahrzehnten im Süden nicht verloren hat, lächelt und nippt am lauwarmen Tee. Das soll auch heißen: Was sind schon 42 Kilometer, wenn man so viel größere Herausforderungen im Leben gemeistert hat?

Das ist es, warum sie sich mit 75 Jahren noch einmal vom Enkel zu einem Marathon überreden ließ. Einfach so, Sohn Uwe und vor allem dessen Sohn Felix zuliebe. So stand sie 2005 unvermittelt an der Startlinie des München-Marathons, mit 75 Jahren. Sie kam bis Kilometer 34. Immerhin. „Ob ich in der Vorbereitung etwas am Training verändert habe? Nee“, sagt sie. „Warum auch? Ich bin wie immer fünf- bis sechsmal gelaufen, zwischen sechs und acht Kilometer, höchstens mal vierzehn.“ Mut muss man haben.
 

RUTH RADECK LÄUFT eigentlich schon seit 1975. Das heißt, die Marathon-Teilnahme kam keineswegs aus heiterem Himmel. „Ich wollte nicht nur Hemden bügeln, hinterm Herd stehen und zusehen, wie meine drei Söhne nach und nach aus dem Haus ziehen“, sagt sie. „Und da mein Mann auch nicht viel und gern spricht, wollte ich raus, unter Leute kommen, also schloss ich mich einem Lauftreff an.“ Das war im Herbst 1975, beim ESV Sportfreunde Neuaubing.

Familie

Radeck wohnte inzwischen in München. Sie war 45, die ersten Lauftreffs waren gerade erst gegründet worden. Man las erstmals auch in der Zeitung vom Jogging. Dienstags und mittwochs wurde gemeinsam gerannt, am Wochenende ab und zu Skilanglauf geübt. „Alles Dinge, die ich nur für mich tat.“ Das war ungewöhnlich für jemanden wie sie, der es eigentlich gewohnt war, nur für andere da zu sein. Das Laufen als Teil ihrer Emanzipation.

Sie sagt es zwar nicht so, aber wenn man hört, wie sie vom Sport und allem, was dazugehört, zu schwärmen beginnt, denkt man es unweigerlich. Und Ruth Radeck merkte schnell, dass sie gut war im ausdauernden Laufen – nicht unbedingt die Fleißigste, aber gut: „Wurden vom Trainer bei einem Testlauf 500 oder 1000 Meter als Laufstrecken angeboten, entschied ich mich für die 500. Da konnte ich dann aber auch Erste werden.“

Die Marathons kamen in die Städte, und bei der dritten Auflage des München-Marathons, 1985 war’s, stand auch Ruth Radeck am Start. Sie kann sich nicht mehr genau erinnern, wie es war, und legt auch keinen Wert drauf, treibt das Gespräch voran. Auf jeden Fall, das immerhin erfährt man, war sie auch 1986 und 1987 dabei und, man höre und staune, lief in einem der drei Jahre beeindruckende 4:20 Stunden. Das Kokettieren mit Bestzeiten ist ihre Sache nicht. Dazu ist sie viel zu bescheiden. Kriegsgeneration.
 
UM BESTZEITEN ODER SIEGE läuft Ruth Radeck natürlich nicht. Sie läuft für sich. Um die Natur zu genießen. Auch, um etwas für  ihre Gesundheit zu tun. Aber vor allem, um etwas für ihre Seele zu tun. Sie läuft zu sich selbst, wie viele andere Menschen – aber kaum jemand in ihrem Alter. Sie läuft nicht täglich, aber beinahe.

Außerdem geht sie zur Gymnastik. Nein, sie radelt zur Gymnastik. Und zum Schwimmen. Mit dem Auto fährt sie nicht mehr so gern. Vor elf Jahren ist sie von München nach Kempten ins Allgäu gezogen, näher an einen der Söhne ran. Da sie sich anfangs nicht so gut auskannte, ließ sie das Auto stehen. Seitdem nutzt sie für alle Besorgungen ihre Füße – oder eben das Rad.

Mit 79 Jahren hat Ruth Radeck so viel Power, wie andere mit 19 nicht. Das strahlt sie auch aus. Und für einen Fotografen kann sie auch mal drei Treppenstufen auf einmal nehmen oder über große Pfützen springen. Keine Frage, darauf ist die alte Dame stolz. So muss es sein. Die große Lunge, die geschmeidigen Muskeln, der gesunde Körper geben ihr Selbstvertrauen. Das kann sie auch gut gebrauchen, seit ihr Mann „es mit dem Herzen hat“ und auf eine starke Frau an seiner Seite angewiesen ist.

Es gab Zeiten, Jahre, da hatte auch Ruth Radeck keine Kraft zum Laufen. Darüber redet sie nicht, besser gesagt: redet sie nicht gern. Man merkt es. Einer ihrer Söhne litt an einer Schlafkrankheit, sie pflegte ihn. Er starb. Hing der erneute Start der Marathonkarriere im Jahr 2005 vielleicht auch damit zusammen? Weglaufen, um zu sich selbst zu finden? „Nein. Vielleicht. Eher nicht“, denkt sie laut und sagt dann: „Felix war’s, der mich motivierte.“

Auf den Enkel ist sie stolz. Der 22-jährige hatte die Idee, dass die Oma noch mal zur Lauf-Oma werden könnte. Sein Vater Uwe, der jüngste der drei Söhne von Ruth Radeck, war in den letzten Jahren ohnehin fast jeden München-Marathon mitgelaufen. Die Mutter als Vorbild? Das würde sie niemals behaupten wollen. Vermutlich sieht er es anders.
 
2005 STIEG RUTH RADECK BEIM MARATHON AUS. Aber zwei Jahre später wuchs sie über sich hinaus: Nach 6:02 Stunden kam sie ins Olympiastadion, als 1199. Fünf Läuferinnen und Läufer kamen noch nach ihr ins Ziel. Das machte Mut, es im nächsten Jahr noch einmal zu probieren. Da ging dann aber alles schief. Sie war 78. Es war ungewohnt warm, der Magen spielte nicht mit, die Beine auch nicht, und bei der Hälfte war sie schon aus dem Zeitlimit herausgefallen. Bei Kilometer 25 war Schluss.

Dennoch trat sie im letzten Herbst wieder an. Mit Sohn Uwe und Enkel Felix. Und einem Fernsehteam von RTL, das auf einer Rikscha immer mit der Kamera dabei war. „Ich merkte von Anfang an, dass es nicht lief“, sagt sie. Sie kam nicht ins Rennen, die Luft blieb weg, die ersten Gehpausen kamen viel früher als geplant. Und der Besenwagen kam immer näher. Bei Kilometer 30 musste sie die Strecke räumen. Aber diesmal wollte sie nicht klein beigeben. Das Fernsehteam, die Familie, die im Ziel am Stadion wartete! Nein, aufgeben ging nicht.

Auf dem Gehweg musste sie sich dann ganz allein Richtung Ziel durchschlagen. Die Strecke war mal an den weggeworfenen Bechern und Bananenschalen zu erkennen, doch meist war sie sich nicht sicher, ob sie überhaupt noch auf dem richtigen Weg war.

Die meisten Zuschauer hatten sich schon auf den Heimweg  gemacht, aber wer auf sie aufmerksam wurde und erkannte, dass die 79-jährige Dame im sportlichen Dress um den Zieleinlauf beim Marathon kämpfte, überschlug sich förmlich vor Begeisterung. Und die Anerkennung setzte bei ihr neue Kräfte frei. Sie kämpfte sich ins Rennen zurück, spulte Kilometer für Kilometer ab und erreichte das Olympiastadion.

Etwas über sechs Stunden nach dem Start überquerte sie gemeinsam mit Sohn und Enkel die Ziellinie im Innenraum des Stadions. Der Enkel war fast stolzer auf die Oma als diese auf sich selbst. „Etwa 40 statt 42 Kilometer werden es gewesen sein“, sagt sie nüchtern, „durch die Streckensuche habe ich vermutlich ab und zu abgekürzt.“ Wen interessiert’s? 40 Kilometer mit 79 Jahren!
 
SIND SIE DENN NUN DIE ÄLTESTE Marathonläuferin Deutschlands?“, fragte TV-Moderator Günther Jauch Ruth Radeck ein paar Tage nach dem letztjährigen Marathon in der Sendung „Stern-TV“. „Es ist nicht meine Aufgabe das herauszufinden“, antwortete sie kess. Und wenn man sie fragt, ob diese Frage sie denn überhaupt inter-essiert, antwortet sie kurz, aber entschieden: „Nein!“ Man hätte sich die Antwort auch denken können.

Wird sie in diesem Jahr noch einmal in München an den Start gehen? „Dann bin ich 80“, sagt sie, nicht mehr und nicht weniger. Warum sollte sie sich auch jetzt schon festlegen? Sie läuft nahezu täglich ihre sechs bis acht Kilometer – jahrein, jahraus. Und wenn sie an einem Marathon teilnehmen will, dann läuft sie deswegen kaum einen Schritt mehr. Doch zum Ende des Gesprächs blitzen ihre Augen plötzlich noch mal auf: „Ich verrate Ihnen was.“

Jetzt ist man gespannt. „Ich träume von einem Start in Berlin, beim Marathon. Von einem Zieleinlauf durchs Brandenburger Tor. Mit Uwe und  Felix Hand in Hand. Dafür würde ich mich noch einmal richtig ins Zeug legen.“

Tja, mit 80, da hat man noch Träume.  

Interview: Martin Grüning in RUNNERS WORLD

author: GRR

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