Im vergangenen Jahr stand er verletzt an der 42,195 Kilometer langen und von 40.000 Teilnehmern belebten Strecke von Berlin und gab sich bittersüßen Gefühlen hin: dem Leid, nicht rennen zu dürfen, und dem Rausch, der die Menschen bei den Rekordläufen von Haile Gebrselassie und Irina Mikitenko erfasste.
Jan Fitschen – Ein Nervengift als letzte WM-Chance – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
„Letztes Jahr habe ich mir die Nase machen lassen“, scherzt Jan Fitschen, „jetzt lasse ich mich mit Botox behandeln.“ Seinen Humor verliert der Europameister aus Wattenscheid nicht. Seine Stimmung dagegen nähert sich manchmal dem Tiefpunkt. Wie sollte es anders sein bei einem Läufer, der seit bald einem Dreivierteljahr nicht rennen kann?
Einer Achillessehnenentzündung im vergangenen Sommer folgte die Entzündung der Plantarsehne, die der Länge nach unter dem rechten Fuß entlangläuft. Fitschen musste die Olympiaqualifikation abbrechen. Statt nach Peking flog er zum Wandern nach Korsika.
Bei dieser Art von Ersatzhandlung und Ablenkung ist es geblieben. Mit dem Rennrad durchs Ruhrgebiet, auf Schneeschuhen durch die österreichischen Alpen und immer wieder Aquajogging im Hallenbad Wattenscheid. Das Höhentraining in den Rocky Mountains hat Fitschen abblasen müssen. Nicht mehr als „fünfzehn Minuten Glück“, so eine Kolumne auf seiner Website, waren ihm vergönnt, als er im Januar an einem spanischen Strand endlich zu joggen beginnen wollte – zu früh, wie er schmerzhaft feststellen musste. Am Dienstag ist er zehn Minuten gerannt, ganz vorsichtig. Am Mittwoch war wieder Laufpause.
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Diplomarbeit über „Absorptionsspektroskopie an deuteriertem Ethan“
„Geduld hat man grundsätzlich nicht“, sagt Fitschen. Mit zwölf verzehrte ihn sein Ehrgeiz, als er in der Abwehr seiner Fußballmannschaft zu verhindern suchte, Spiel um Spiel zu verlieren. Als der kleine Jan sich besonders über eine Niederlage ärgerte, trat er in seinem Elternhaus eine Glastür ein. Dafür gab es Stubenarrest. Fortan war der Junge nicht mehr Mannschaftssportler, sondern Einzelkämpfer.
Zwanzig Jahre und mehr als zwanzig deutsche Meisterschaften in allen möglichen Rennen später ist er wieder dem Schicksal ausgeliefert – und ärztlicher Kunst. An der Charité von Berlin hat er einen Arzt gefunden, der chronische Tennisellbogen mit dem Nervengift Botulinumtoxin A therapiert, Botox. Würde er nach der Injektion in den Fuß acht Wochen Pause machen, wäre die Entzündung mit Sicherheit weg – aber noch dazu jede Aussicht, bei den Weltmeisterschaften in Berlin starten zu können.
„Wenn das jetzt klappt und ich in einer Woche schmerzfrei laufen kann, sehe ich zumindest noch eine Chance für die WM“, sagt Fitschen, „wenn auch keine große mehr.“ Dabei hatte doch der Gewinn des Europameisterschaftstitels über 10.000 Meter im August 2006 in Göteborg der Neubeginn, nicht der vorläufige Schluss der sportlichen Karriere werden sollen. Verein und Sponsor griffen tief in die Tasche, Veranstalter zahlten ordentliche Antrittsgelder, und das Physikdiplom war, nach zehn Jahren Studium, zum Greifen nah. Fitschen zog durch: Er schrieb seine Diplomarbeit über „Absorptionsspektroskopie an deuteriertem Ethan“ und begann mit der Olympiavorbereitung.
Statt sich eine Stelle zu suchen, wollte er endlich professioneller Sportler sein. „Ich habe gedacht: Jetzt kracht’s richtig.“ In Palo Alto bei San Francisco lief er im Mai in 28:02,55 Minuten schneller als bei seinem Titelgewinn von Göteborg – und erreichte doch nur die B-Norm für die Spiele. „Ich war sicher, dass ich es in Peking ins Finale schaffen würde“, erinnert er sich. Dann kam die Achillessehnenentzündung. „Kann sein, dass das alles zu viel war“, sagt er. „Wir machen alle eine Gratwanderung: Wenn man an die Spitze will, muss man hundert Prozent bringen. Aber wenn man ein Prozent zu viel riskiert, kann man alles kaputtmachen.“
Dann geht Fitschen auf die Straße
Die Zwangspause im Herbst nutzte Fitschen, um sich die Nasenscheidewand richten zu lassen. Nicht um Schönheitskorrekturen ging es ihm dabei, sondern um freie Atmung. So ist es auch mit der Botox-Therapie. Die Substanz, die Schönheitschirurgen gegen Falten einsetzen, soll Entzündung und Schmerz besiegen.
Und wenn nicht? Dann geht Fitschen auf die Straße. Für den Herbst plant er einen Halbmarathon. Am 2. Mai wird der frühere 1500-Meter-Läufer 32 Jahre alt und kommt damit ins beste Langstrecken-Alter. Sein Marathon-Debüt könnte er, mit anderthalb Jahren Vorbereitung, 2011 geben. Zum Training ist Fitschen schon Halbmarathons in 66 Minuten gelaufen, für seinen Freund Alexander Lubina hat er beim Berlin-Marathon 21 Kilometer lang Tempo gemacht.
„Manchmal könnte ich Scheiben einschmeißen“
Im vergangenen Jahr stand er verletzt an der 42,195 Kilometer langen und von 40.000 Teilnehmern belebten Strecke von Berlin und gab sich bittersüßen Gefühlen hin: dem Leid, nicht rennen zu dürfen, und dem Rausch, der die Menschen bei den Rekordläufen von Haile Gebrselassie und Irina Mikitenko erfasste. Anschließend trat er auf seinem Rennrad so lange in die Pedale, bis er vor Erschöpfung nicht einmal mehr traurig war.
„Manchmal könnte ich Scheiben einschmeißen, weil ich laufen will“, verrät Fitschen. „Aber es wäre verdammt undankbar, wenn ich jetzt sagen würde, alles sei mies.
Hej, ich bin Europameister! Wer kann das schon sagen.“
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Dienstag, dem 31. März 2009