Usain Bolt, der schnelle, große Junge von nebenan, ist ein starkes Symbol für Jamaika. Aber er ist ein gefährliches Vorbild. Die stärksten Läufer im Stadion sagen alle, sie wollten wie er Angebote aus Amerika ablehnen und auf der Insel bleiben.
Jamaikas Sprintwunder – Geliebter Star als gefährliches Vorbild – Michael Reinsch, Kingston/Jamaika, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
13. April 2009 Wenn das nicht der Usain Bolt von morgen ist. Als über dem Nationalstadion von Kingston nach einem jamaikanisch heißen Tag die Sonne sinkt, stürmt der gerade achtzehn Jahre alte Dexter Lee in vollendeter Eleganz zum Sieg über 100 Meter.
Ein explosiver Start des schlaksigen Athleten, raumgreifende Schritte, ein fast schon arrogant aufscheinender Zeigefinger, als er seine Bestzeit auf 10,31 Sekunden verbessert – was kann mehr Potential verraten? Kurz feiert das Publikum den Sieg. Doch hier, wo die Olympiasieger von sechs Laufwettbewerben der Spiele von Peking zu Hause sind, ist Lee nur einer von vielen.
Dreieinhalbtausend Nachwuchsathleten messen sich bei den jamaikanischen Oberschulmeisterschaften der Jungen und Mädchen im April, den Champs. 30.000 Menschen kommen zum Finale der viertägigen Meisterschaft ins Stadion. Tausende amüsieren sich vor den schwerbewachten Stadiontoren in Rauchschwaden, die von Grills mit Jerk Chicken und von Joints aufsteigen. Das Fernsehen überträgt direkt.
Mehrere Usain Bolts ausgemacht
„Hier manifestiert sich Leichtathletik“, brüllt Donovan Bailey in dem Getöse. „Die Schulen, die Kinder, die Begeisterung – schöner kann man unseren Sport nirgendwo auf der Welt erleben.“ Der Olympiasieger von Atlanta 1996 hat einen Tipp: Jazeel Murphy. In 10,44 Sekunden gewinnt der Fünfzehnjährige sein Sprintfinale und nimmt sich dabei Zeit für einen schlechten Start und dafür, auf den letzten fünf Metern auf seine Brust zu trommeln: ein Bild von Bolt. „Wir trainieren auf derselben Anlage“, sagt der Junge nach seinem Sieg über 200 Meter in 21,38 Sekunden. „Ich will auch professioneller Läufer werden.“
„Dies hier ist eine Wallfahrt“, schreit Ato Boldon, der aus Trinidad eingeflogen ist, durch den Lärm. Der 200-Meter-Weltmeister von Athen 1997 ist begeistert: „Dies ist das reinste Sportfest der Welt: Es geht um Athleten, um Schule, um Alumni. Hier sieht man Kinder Zeiten laufen, mit denen du woanders in die Olympiamannschaft kommst.“ Auch er hat einen Usain Bolt von morgen ausgemacht. „Dieser Batman-Typ!“, ruft Boldon. Er meint den achtzehnjährigen Ramone McKenzie, der nicht nur Siege über 200 (20,66) und 400 Meter (46,99) zum Fest beiträgt. Bei der Stadionrunde trägt er eine Brille ohne Gläser, und auf den Langsprint geht er mit Batman-Maske. Der stämmige Läufer ist dicht dran an der weiten Welt des Sprints. „Bolt hat mir gesagt: Werde nicht wie ich, werde besser“, erzählt er. „Wenn ich hart trainiere, schaffe ich das.“
Begeisterung wie andernorts beim Gewinn der Fußball-WM
Und plötzlich steht der Usain Bolt von heute auf der bröselnden Betonrampe zwischen Laufbahn und Tribünen. Als er ihnen zuwinkt, brechen Hunderte Anhänger von Kingston College in Jubel aus. Der Olympiasieger hat eine Krawatte in ihren Farben über sein gelbes T-Shirt geworfen, lila-gestreift. Dabei ist er nie für „KC“ gestartet, sondern fünfmal für die William Knibb Memorial High School aus Trelawny im Nordwesten. 2003, mit sechzehn, lief er 200 Meter in 20,23 Sekunden und 400 in 45,30 – Rekorde, die bis heute gelten.
Mit seinen Weltrekorden von Peking – 9,69 Sekunden, 19,30 und 37,10 mit der Staffel (siehe: Jamaikas Läufer: Rausch der Geschwindigkeit und ) – hat Bolt auf Jamaika Begeisterung ausgelöst, wie sie anderswo den Gewinn der Fußball-Weltmeisterschaft voraussetzt. Zum ersten Leichtathletik-Training des Kingston College danach kamen neunhundert Schüler auf die Wiese, die den Sportplatz darstellt. Nun drängeln sich Kinder, Eltern und Ehemalige, um Autogramme von Bolt zu bekommen, ein Wort von ihm aufzuschnappen, ihn durchs Gitter anfassen zu können. Als sie „Sway, Sway!“ rufen, erfüllt er ihnen den Wunsch und zeigt ein paar Tanzschritte.
„Jeder dort unten rennt um ein Stipendium“
Seit 1910 tragen die Oberschulen Jamaikas ihre Champs aus. Zur Siegermannschaft von 1911, dem Team von Jamaica College, gehörte der sechzehnjährige Norman Manley. Bevor er die Verfassung Jamaikas schuf und das Land in die Unabhängigkeit führte, machte er als 10,0-Sprinter von sich reden – über hundert Yard, die 91,44 Meter des Commonwealth. Der Sport verschaffte Manley ein Rhodes-Stipendium in Oxford.
Die Gesten des Usain Bolt: Die Nachwuchssprinter imitieren ihr extrovertierte…
Die Gesten des Usain Bolt: Die Nachwuchssprinter imitieren ihr extrovertiertes Vorbild
Heute ist der Oberschulbesuch kein Privileg der weißen Elite mehr. „Jeder dort unten rennt um ein Stipendium“, sagt Ruel Reid, Rektor von Jamaica College. Scouts aus den Vereinigten Staaten werben bei den Champs um Talente. Sie haben nicht nur wegen des westafrikanischen Genpools, den die Sklaverei in der Karibik schuf, eine reiche Auswahl. Seit Fidel Castro den Jamaikanern vor bald dreißig Jahren das G. C. Foster College stiftete, werden dort jährlich rund fünfzig Sportlehrer und Trainer ausgebildet. Jede Schule hat zugegriffen. Die sportliche Konkurrenz ist nun so groß, dass manche Teams – unterstützt von Ehemaligen – über Etats von einem Drittel des Schulbudgets verfügen. Die Trainer rekrutieren begabte Sportler. Kein Talent bleibt unentdeckt. „Dies ist der Boden, aus dem Olympiasieger wachsen“, sagt Reid stolz. Bis zu zwanzig aus seinem Team könnten Stipendiaten in den Vereinigten Staaten werden. Bis über zweihundert reichen Schätzungen, wie viele jamaikanische Jugendliche jährlich zu Studienplätzen in Übersee sprinten. Welche Chance für Kinder dieses armen Landes!
Beitrag zur nationalen Identität wie einst Bob Marley
„In nicht geringem Maß hat der Erfolg dazu gedient, individuelles und nationales Selbstbewusstsein zu fördern; die Selbstsicherheit, die dem entspringt, ist in die Psyche eines jeden Jamaikaners eingeimpft“, schreibt Patrick Robinson in einem Buch, dessen Titel die These belegt: „Jamaican Athletics – ein Beispiel für die Welt“. Robinson war 1959 mit Jamaica College Sieger der Champs und ist heute Richter am Internationalen Gerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag. Indem Usain Bolt und Asafa Powell, die schnellsten Sprinter der Welt, Stipendien in Amerika ausschlugen und auf Jamaika blieben, haben sie laut Robinson eine Scharte ausgewetzt, die darin bestand, dass stets amerikanische Trainer die Ausbildung jamaikanischer Athleten vollendeten.
Stephen Francis und Glen Mills, die Trainer der beiden, hätten für die Leichtathletik getan, was Marcus Garvey, Norman Manley und Alexander Bustamente für die Politik und was Bob Marley für die Musik leisteten: einen Beitrag zur nationalen Identität. Wie er so über „Jamaicanness“ schwadroniert, fragt man sich: Sollen nun Sprinter gegen Babylon kämpfen?
Wie andernorts der Gewinn der Fußball-WM: Usain Bolts linker Schuh beim Olympiasieg
Bolt eignet sich nur bedingt dafür. Er jongliert plötzlich mit Schuhen seines Sponsors. Die Kameraleute feuern ihn an. Aus der fröhlichen Begegnung am Zaun ist die Szene eines Werbespots geworden; Fans werden zu Komparsen, Stimmung zu Kulisse. Niemand ist überrascht. Weiß doch jeder, dass Sport auch Geschäft ist. Sogar Robinson. Er spricht von einer Industrie, wenn er die Entwicklung von sportlichem Talent meint: „Das Land muss seine Verantwortung für dieses einzigartige Produkt erkennen.“Medaillenfabrik Jamaika.
Ein einziger Doping-Fall würde er dies alles zunichtemachen
Der 19 Jahre alte Yohan Blake (Bestzeit 10,08) hat sich bereits Bolts Trainingsgruppe angeschlossen. Mädchen scheinen vernünftiger. Die neunzehnjährige Jura Levy, Zweite über 100 Meter (11,42) und Siegerin über 200 Meter (23,73), sagt amüsiert: „Natürlich will ich Läuferin werden. Und natürlich will ich ein Studium in Übersee.“
Nicht nur auf dem schmalen Grat zwischen sportlichem Erfolg und beruflichem Scheitern balanciert der Hochleistungssport. „Dies hier ist das beste Nachwuchsprogramm der Welt“, sagt Neville McCook, Präsident des Nationalen Olympischen Komitees von Jamaika. Seine weite Geste fährt durchs Stadion. „Wenn wir auch nur einen einzigen Doping-Fall hätten, würde er dies alles zunichtemachen.“ Doch die Zeichen stehen noch auf Feiern.
Im nächsten Jahr finden die Champs zum hundertsten Mal statt.
Michael Reinsch, Kingston/Jamaika, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Dienstag, dem 14. April 2009