Einladung zu einer Kochshow mit D-Promis, seltsame Fragen zu seiner Befindlichkeit – Europameister Christian Reif muss erklären, dass er ein Spitzenathlet ist
ISTAF BERLIN – Der weite Sprung aus der Unauffälligkeit – Weitspringer Christian Reif – Frank Bachner im Tagesspiegel
Berlin – Das musste nun wirklich nicht sein. Christian Reif ist nicht besonders anspruchsvoll, aber diese Einladung? Danke nein. Die Produktion von „Das perfekte Promi-Dinner“ hatte sich gemeldet, der Show beim TV-Sender „Vox“, bei der Promis von sehr überschaubarer Bedeutung am Herd stehen und für andere Promis gleicher Couleur kochen. Wäre doch schön, wenn auch Christian Reif für andere mal ein nettes Süppchen bereiten würde, fragten die Produktionsleute.
Nein, macht er nicht. Eine Kochshow, sagt er, hätte dann doch nicht zu ihm gepasst. Reif, der Weitsprung-Europameister, steht vor der Herdplatte und gibt launige Kommentare – seine Freunde hätten sich schlappgelacht. Also hakt er das „Promi-Dinner“ als kurioseste Reaktion auf seinen Titel ab. Der 25-Jährige hatte viele Reaktionen: Glückwünsche, Anfragen oder sonstige Nachrichten. Er hatte ja Bilder geliefert, die direkt ins Herz der Fernsehzuschauer drangen. Seine Freudensprünge an der Grube, die an ein Fohlen beim ersten Galopp erinnerten, seine aufgerissenen Augen, dieser Spurt mit fassungslosem Blick zu seinem Trainer, dieser Jubel über seinen Siegsprung von 8,47 Meter, das alles machte Christian Reif am letzten Tag der Leichtathletik-EM bekannt.
Drei Wochen sind seither vergangen, er hat ein Bankinstitut als Sponsor gewonnen, und beim Istaf heute im Olympiastadion ist er eine der Zugnummern. Extra seinetwegen hat Meeting-Direktor Gerhard Janetzky kurzfristig Weitsprung ins Programm aufgenommen. Das alles könnte Reif suggerieren, dass sich sein Stellenwert weiter erhöht hat.
In Wirklichkeit muss Christian Reif erst mal klarstellen, dass er überhaupt schon einen Stellenwert hatte vor Barcelona. Er hat seit der EM viele Medientermine, er hat Anfragen von Leichtathletik-Fans, und die meisten Fragen klingen immer gleich. Hat Sie dieser Sensationssieg überrascht? Waren Sie besonders aufgeregt bei so einer Atmosphäre? Wie kamen Sie quasi aus der Unauffälligkeit so schnell an die Spitze? Die Fragen transportieren das Bild eines Newcomers, der aus der sechsten Reihe plötzlich ins Rampenlicht katapultiert wurde.
Als Reif mal wieder mit solchen Fragen bedrängt wird, blickt er ein paar Sekunden irritiert, dann verzieht sich sein Mund zu einem etwas hilflosen Lächeln. „Ich sehe mich nicht unbedingt als unerfahren“, sagt er dann. Oder: „Ich war von der Goldmedaille nicht vollkommen überrascht. Überrascht war ich von der Siegerweite, mit der hätte ich nicht gerechnet.“
Für Reif war Barcelona die logische Folge einer langen Entwicklung, auf die Öffentlichkeit stürzt seine Leistung ein wie ein Platzregen. Ansatzlos und heftig. Dass er als Nummer eins der europäischen Rangliste nach Barcelona gereist ist, dass er vor der EM 8,27, 8,22 und 8,21 Meter gesprungen ist, das nahm kaum jemand zur Kenntnis. Das Bild bestimmten die Stars: Robert Harting, Ariane Friedrich oder Ralf Bartels.
Reif ist jetzt 25, er war schon vor drei Jahren bei einer Weltmeisterschaft gesprungen, 2007 in Osaka, sein erstes großes Highlight. Sein weitester Sprung endete nach 7,95 Metern, das reichte für Platz neun. Damals besaß er noch nicht die Nervenstärke, die ihn in Barcelona auszeichnete. Damals hatte ein Psychologe ihn auf die WM vorbereitet. Reif fuhr hin, vollgepumpt mit Fantasien von zehntausenden Fans, die für ein Höllenspektakel sorgen und eine Atmosphäre, die einschüchternd wirken kann. Aber dann stand er in diesem riesigen Stadion und starrte auf die paar Grüppchen, die sich eine Weitsprung-Qualifikation anschauten. „Ich war nicht sehr beeindruckt“, sagt Reif. „Ich war enttäuscht, weil wenige Zuschauer da waren.“
Der junge Athlet aus Ludwigshafen stand da, und ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf: „Wo ist denn jetzt diese so angeblich tolle Atmosphäre?“ Diese beschauliche Kulisse kann es ja nicht gewesen sein. Also sagte er sich, dass er schon wegen der Stimmung im Finale springen müsse. „Ich wollte wissen, wie es sich anfühlt in einem großen, vollbesetzten Stadion.“ Es fühlte sich nicht so toll an. „Ich war nicht überwältigt.“
Deshalb haben ihn in Barcelona auch die Zuschauer nicht sonderlich beeindruckt mit ihrem Lärm. Sein Trainer Ulli Knapp hatte ihn schon mehr ins Grübeln gebracht. „Wo steht der Rekord für Europameisterschaften?“, hatte er Reif vor dem Wettkampf gefragt. „8,41 Meter“, antwortete Reif. „Warum? Das springe ich sowieso nicht.“ Da lächelte Knapp in sich hinein. „Wart’s ab“, sagte er bloß.
Reif hat zu viele Verletzungen, zu viele Tiefs hinter sich, um die 8,47 Meter auf eine Ebene zu heben, auf die sie nicht gehören. Er ist nicht der neueste Weltklassespringer, der Topweiten regelmäßig liefert. „Es ist unmöglich, in Berlin 8,47 Meter zu springen“, sagt er. Dazu ist er nach der Europameisterschaft einfach nicht mehr in der Lage. In Zürich am Donnerstag landete er nach 8,11 Metern. Platz zwei.
Überhaupt, die 8,47 Meter, die kamen natürlich auch bei 1,8 Meter Rückenwind und auf einem besonders guten Belag zustande, Reif zählt das alles auf. Nur klingt es nicht so, als würde er damit seine Leistung kleinreden. Er will bloß die Weite nicht überhöhen und damit Erwartungen schüren, an denen er nur scheitern kann.
Natürlich möchte er mal Deutschen Rekord springen. Der steht seit 30 Jahren bei 8,54 Metern (gesprungen von Lutz Dombowski im DDR-Trikot), aber er möchte die Weite nicht als Getriebener angehen. Er nennt kein konkretes Datum. Wieso sollte er auch? Er hat Zeit.
Und er weiß, was für ein Potenzial er besitzt. Bei den 8,47 Metern hat er vor dem Balken noch acht Zentimeter verschenkt.
Frank Bachner im Tagesspiegel, Sonntag, dem 22. August 2010