Blog
17
07
2016

Ingrid MICKLER-BECKER, Deutschland, Mehrkaempferin, Aktion Kugelstossen, beim Mehrkampf-Meeting in Stuttgart, Querformat, 12.09.1976, SW-Aufnahme,

Ingrid Mickler-Becker – Barfuß zu GOLD – Kerstin Börß in „Leichtathletik“- Teil 4

By GRR 0

Als Kind durfte Ingrid Mickler-Becker nie barfuß laufen. „Wir mussten zeigen, dass wir Schuhe hatten. Aber immer wenn ich außer Reichweite war, habe ich die Schuhe ausgezogen und bin mit den anderen Kindern barfuß gelaufen.“

Das hat auch nach der Kindheit noch angehalten: „Wenn ich irgendwie barfuß laufen kann, dann tue ich das.“ Klimatisch kam der gebürtigen Gesekerin daraufhin der Austragungsort der Olympischen Spiele 1968 sehr entgegen.

„Mexico-City war sehr warm, und wir hatten von Dr. Scholl in der Ausrüstung Holzlatschen bekommen, mit denen bin ich ins Stadion gegangen, ansonsten war ich immer mit Turnschuhen im Stadion und habe mich mit Turnschuhen eingelaufen. Da habe ich dann die Gelegenheit genutzt, mich barfuß einzulaufen“, blickt Mickler-Becker auf den 15. Oktober 1968 zurück, den ersten Tag des Fünfkampfs.

Nach dem Einlaufen ohne Schuhe war dann zunächst der Wettbewerb über 80 Meter Hürden an der Reihe – mit Spikes an den Füßen und einer persönlichen Bestzeit von 10,9 Sekunden im Ziel.

Mit Platz zwei ging es für die damals 26-jährige Sportlerin zu ihrer ungeliebten Disziplin, dem Kugelstoßen. „Zum Kugelstoßen brauchte ich dann meine Turnschuhe. Die waren aber im olympischen Dorf, jetzt musste ich also barfuß stoßen. Mit Spikes konnte ich ja nicht in den Betonring“, berichtet sie von ihrem Vorhaben, das der Richter aber beim Anblick ihrer nackten Füße direkt verbat.

Daraufhin kamen mit der Russin Valentina Tikhomirova und der Österreicherin Liese Prokop die Konkurrentinnen zur Hilfe, fragten nach der Schuhgröße Mickler-Beckers und machten sich auf die Suche. „Acht Paar Schuhe hatte ich dann vor mir stehen“, erzählt Mickler-Becker, die schließlich in drei verschiedenen Paaren das Kugelstoßen bestreiten konnte.

Trotz dieser großen Auswahl an Schuhen lief das Kugelstoßen mit nur 11,48 Metern und einem zwischenzeitlichen zwölften Platz im Gesamtklassement bescheiden.

Doch die heute in Rheinland-Pfalz lebende Athletin hat eine einfache Erklärung parat: „Ich habe Kugelstoßen nie trainiert, weil ich geglaubt habe, dass ich davon dicke Arme bekomme. Daher hat mich das Ergebnis eigentlich nicht so geschockt, weil ich wusste, da bin ich einfach schlecht.“

Alles andere als schlecht liefen daraufhin die folgenden – bei ihr weitaus beliebteren – Disziplinen. So gewann die Deutsche sowohl den Hoch- als auch den Weitsprung mit Ergebnissen von 1,71 Metern und 6,34 Metern.

An der Spitze lag vor den abschließenden 200 Metern aber noch Prokop, 22 Punkte vor Mickler-Becker, die nun drei Zehntelsekunden schneller sein musste als die Österreicherin.

Es wurden nicht nur die benötigten drei, sondern 16 und damit die Goldmedaille vor Prokop und Annamaria Toth aus Ungarn.

Tikhomirova wurde Vierte. „Das war meine emotionalste Medaille, weil die anderen mir geholfen haben, obwohl sie wussten, dass ich ihre größte Konkurrentin war. Da hat sich einfach ausgezahlt, dass wir immer sehr fair miteinander umgegangen sind.“

Kurz umdisponiert

So sehr sie sich am Abend des 16. Oktober über die Medaille freute – eigentlich wollte Ingrid Mickler-Becker in Mexiko einen ganz anderen Wettbewerb gewinnen – den Weitsprung: „Das war vor den Spielen mein großes Ziel. Ich war in einer unheimlich guten Verfassung, und dann bekam ich Montezumas Rache und habe innerhalb von einer Woche sechs Kilo abgenommen – und ich hatte eh nicht so viel an Gewicht. Ich bin eigentlich zwei Tage vor dem Weitsprung erst wieder unter den Lebenden gewesen, und das ist natürlich buchstäblich in die Hose gegangen.“

Nach einem enttäuschenden sechsten Platz disponierte Mickler-Becker abends in einer stillen Minute um: „Ich habe zu mir selbst gesagt, ich habe jetzt zwei Mal bei Olympischen Spielen zugesehen, wie andere das machen. Dieses Mal sollte ich eigentlich an der Reihe sein, und nun ist das danebengegangen. Dann will ich auf jeden Fall den Fünfkampf gewinnen.“

Dass dieser Plan so hervorragend aufging, lag auch daran, dass es mit der Gesundheit jeden Tag aufwärtsging, obwohl die räumlichen Bedingungen dafür nicht perfekt waren. Außer Liesel Westermann und Heide Rosendahl wohnten alle Frauen der deutschen Leichtathletikmannschaft in einer Wohnung mit einer Toilette und einer Dusche, wobei sich Toilette und Dusche in einem Raum befanden. „Helga Henning und ich hatten zur gleichen Zeit Montezumas Rache. Die anderen, die nicht betroffen waren, die haben das mit Humor genommen und mit großer Nachsichtigkeit“, erzählt die ehemalige Leichtathletin, die seit Langem den Golfsport für sich entdeckt hat.

Zu dritt habe man in einem Zimmer gelegen, in das weder Schrank noch Nachttisch passten. „Wir haben aber nicht geguckt, was fehlt uns alles, wir haben geguckt, was können wir daraus machen. Und diese räumliche Enge, die hat uns persönlich Wärme gegeben. Wir waren so miteinander verwoben, wir haben uns gegenseitig getröstet, uns miteinander gefreut. Das war ein großes Ganzes.“

Dieses große Ganze beschränkte sich allerdings nicht auf die anderen Frauen auf dem Zimmer oder in der Wohnung, sondern war auf das olympische Dorf zu übertragen. „Wir mussten nicht so früh ins Bett“, sagt die heute 73-Jährige, „damals waren die Wohndörfer von Männern und Frauen noch getrennt, wir Frauen dürften aber zu jeder Zeit in das Männerdorf. Die Nächte waren lauwarm, und im Männerdorf war immer etwas los.“

Man habe dort viele wiedergetroffen, die man von anderen internationalen Wettkämpfen oder von Olympischen Spielen davor schon kannte. Zudem habe es in Mexiko unabhängig vom Wetter heiße Diskussionen im olympischen Dorf gegeben. „Ich hatte sehr großes Verständnis für die Black-Power-Bewegung. Wir haben da offen drüber geredet. Wir konnten ja auch Zeitungen lesen und haben zum Beispiel die amerikanischen und englischen Zeitungen gelesen“, erinnert sich Mickler-Becker an die politische Protestaktion der US-Sprinter Tommie Smith und John Carlos, die, nachdem sie während der Siegerehrung die in schwarze Handschuhe gehüllten Fäuste in die Höhe gereckt und zu Boden geschaut hatten, nach Hause geschickt wurden – nach den blutigen Studentenprotesten mit vielen Toten vor den Spielen der zweite Skandal rund um die Spiele 1968.

Mexiko kein Neuland

Die Auswirkungen einer weiteren politische Entscheidung – die ersten Olympischen Spiele mit getrennten deutschen Mannschaften – hatten laut Mickler-Becker, die auch schon bei den Spielen 1960 und 1964 dabei gewesen war, allerdings keine großen Veränderungen mit sich gebracht: „Wir waren zwar 1960 und 1964 eine gesamtdeutsche Mannschaft, das war aber nur beim Einmarsch und beim Hissen der Flagge so, ansonsten waren wir strikt getrennt.

Der Teil der ostdeutschen Frauenmannschaft wohnte in einem anderen Stockwerk oder sogar in einem anderen Haus. Der Kontakt fand also auch damals schon mehr oder weniger immer heimlich statt, denn die aus der ehemaligen DDR hatten ja Verbot, mit uns Kontakt aufzunehmen. Wir machten also Treffen aus, die unter Ausschluss der Offiziellen stattfanden.“

Im Gegensatz zu anderen Athleten musste Mickler-Becker Stadt und Land während der ersten Olympischen Spiele in Lateinamerika nicht mehr kennenlernen. Denn sie war zwei Jahre vorher schon jeweils zu Tests in Mexiko gewesen. Deutsche Wissenschaftler wollten im Vorfeld der Spiele herausfinden, wie sich die Sportler in der Höhenlage von über 2.000 Metern verhalten. „Man hatte mich mitgenommen zu diesem Test, und als ich das erste Mal auf dem Ergometer saß und die Daten genommen wurden, da wussten die schon, dass sie damit nicht anfangen konnten, ich war ja keine Dauerleisterin. Und dann wurde ich für sechs Wochen freigestellt.“

Ihre Aufgabe bestand fortan darin, die Nummernschilder der VWs des Teams, die abgeschraubt waren, von der Polizeiwache wiederzuholen. Abgesehen von dieser kleinen Aufgabe blieb ihr also viel Zeit: „Ich habe Mexico-City von allen Seiten vor und zurück kennengelernt, war in jedem Museum, und sehr häufig in der Bibliothek oder auf dem Campus.“ Diese Erinnerungen an Mexiko und die an den goldenen Fünfkampf sind bei Ingrid Mickler-Becker präsenter als die eigentlichen Medaillen. „Die sind sehr viel auf Wanderschaft, ich gebe die immer wieder zu Ausstellungen und zu Eröffnungen.

Im Moment weiß ich nicht einmal, wo sie sind.“ Wer also grade neben sich schaut und dort eine Goldmedaille von 1968 liegen hat, darf sich gerne melden.

Kerstin Börß in "Leichtathletik" vom 18. Mai 2016 – Nr 21

Die OLYMPIA-HISTORIE in "Leichtathletik": 

Eine Weltreise zu Bronze – Manfred Germar – Die Olympiaserie – Melbourne 1956 – Daniel Becker in Leichtathletik – Teil 1

OLYMPIA-HISTORIE ROM 1960 – Nicht „nur" dabei sein – ARMIN HARY – Kerstin Börß in Leichtathletik – Teil 2

OLYMPIA-HISTORIE: TOKIO 1964 – Die Sensation – WILLI HOLDORF – Henning Kuhl in Leichtathletik – Teil 3

author: GRR

Comment
0

Leave a reply