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29
07
2010

In die Lücke springen – Deutsche Stabhochspringerinnen sehen ihre Chance – bei der EM fehlt heute Jelena Isinbajewa – Frank Bachner im Tagesspiegel

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Barcelona – Ein paar technische Tipps darf er noch geben, da ist Carolin Hingst großzügig. Ganz aus ihrem sportlichen Leben will sie Andrej Tiwontschik nicht vertreiben. Immerhin hat er sie lange genug umfassend trainiert. Aber alles andere als Techniktraining macht Carolin Hingst seit Januar allein. „Zwischenmenschliche Probleme“, mehr sagt sie nicht dazu.

Überhaupt, Tiwontschik, über den will sie gar nicht groß reden. Ist der noch interessant? Bei dieser Bilanz? Carolin Hingst hat im Juli 4,72 Meter überquert, da war sie schon länger ihr eigener Coach. 4,72 Meter, das bedeutet derzeit Platz eins in der europäischen Rangliste der Stabhochspringerinnen. Und natürlich Medaillenchancen in Barcelona.

Nur gibt es da auch noch Silke Spiegelburg aus Leverkusen, die liegt mit 4,71 Metern auf Platz zwei der Rangliste. Dritte Deutsche bei der EM ist Lisa Ryzih aus Ludwigshafen, persönliche Bestleistung 4,60 Meter. Heute findet das Finale statt, alle drei Deutschen haben problemlos die Qualifikation überstanden. Und weil Weltrekordlerin Jelena Isinbajewa fehlt, steigen ihre Medaillenchancen.

„So eine Leistungsdichte ist außergewöhnlich“, sagt Herbert Czingon, einer der beiden deutschen Chef-Bundestrainer und früherer Stabhochsprung-Bundestrainer. Die Leistungsdichte ging ein wenig auf Kosten der Harmonie im Team, doch Czingon sieht darin „ein Zeichen von Reife. Man braucht die Gruppe nicht mehr so.“

Durch die enorme nationale Konkurrenz hat Carolin Hingst auch die Wettkampfhärte und die Abgeklärtheit erlangt, die ihr früher fehlten. Früher sprang Hingst, das Nervenbündel. Bei den Olympischen Spielen 2004 stand sie derart unter Druck, dass sie völlig unmotiviert einen Streit mit den Kampfrichtern anzettelte und in der Qualifikation scheiterte. In Biberach katapultierte sie sich im Juli dagegen über 4,72 Meter.

Sie ist reifer geworden, genauso wie Silke Spiegelburg. Bei der WM 2009 hatte sie noch heulend neben dem Anlauf gehockt. Sie hatte Bronze in Reichweite, aber nur Rang vier erreicht. „Sie hatte bis zur Hallen-Saison daran zu knabbern“, sagt Czingon. „Aber sie ist dadurch stärker geworden.“ Im März sprang sie in Doha, Katar, mit geliehenen Stäben. Ihre eigenen waren nicht angekommen, und zu Hause musste Trainer Leszek Klima erst mal hektisch ihre Griffhöhe abmessen und durchtelefonieren. Aber Spiegelburg gewann mit 4,70 Metern.

In der großen nationalen Konkurrenz hat auch die 21-jährigen Lisa Ryzih Wettkampfhärte entwickelt. Sie ist hoch aufgeschossen und ziemlich dünn, sieht eher aus wie ein Model. Wer sie sieht, erkennt sofort ihre Reserven. „Wenn sie athletisch zulegt, wird sie noch schneller“, sagt Czingon, „dann wird sie eine ganz tolle Springerin. Sie ist technisch sehr stark.“ Carolin Hingst lud sich im Juni noch selbst zum Meeting in Regensburg ein, ohne einen Cent Gage zu verlangen, weil sie unbedingt springen wollte. Sie sprang über 4,60 Meter. Und bekam dafür zumindest die Siegprämie.

 Frank Bachner im Tagesspiegel, Donnerstag, dem 28. Juli 2010

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