Blog
13
10
2015

Chicago Marathon: Im Schaufenster - Die USA, das Mutterland des Marathons - Von Jürg Wirz ©Victah Sailor

Im Schaufenster – Die USA, das Mutterland des Marathons – Jürg Wirz berichtet

By GRR 0

Dickson Chumba und Florence Kiplagat, beide aus Kenia, gewannen gestern die  38. Austragung des Chicago-Marathons. Erstmals seit 26 Jahren verzichteten die Organisatoren auf Tempomacher, um „ein echtes Rennen zu ermöglichen“, wie es hiess.

So waren die Streckenrekorde von Dennis Kimetto (2:03:45 im Jahre 2013) und Paula Radcliffe (2:17:18 im Jahre 2002) nicht in Gefahr. Radcliffes Zeit war damals Weltbestzeit, die letzte von vier in der Millionenstadt am Michigan-See.

Seither ist die schnellste Marathonstrecke deutsch und liegt in Berlin.

Noch bevor am ersten November-Sonntag in New York das Nonplusultra der Szene gefeiert wird, haben die Vereinigten Staaten ihre Stellung als Marathon-Mekka zementiert. Mit New York, Chicago, Boston, Honolulu und Los Angeles sind fünf der zehn grössten Marathons auf amerikanischem Boden.

Gemäss „Running USA“ gab es im letzten Jahr mehr als eine halbe Million Amerikanerinnen und Amerikaner, die sich Marathon-Finisher nennen konnten, 1976 waren es noch 25 000 gewesen. Was ebenso beeindruckt: Der Frauenanteil hat im Laufe der Jahre auf 43 Prozent zugenommen. Chicago bringt es auf 46 Prozent; an mehreren Orten, so in Orlando, Portland und Napa, sind bereits mehr Frauen als Männer am Start.

Der Lauf zwischen Lust und Leid hat in den USA eine grosse Tradition.

Ein Jahr nach den ersten Olympischen Spielen 1896 führte Boston bereits einen Marathon durch. 15 waren am Start, zehn kamen ins Ziel. Seither fand der mit Abstand älteste Marathon der Welt  jedes Jahr statt, nur im Kriegsjahr 1918 ersetzt durch ein Staffelrennen für Armeangehörige.

New York gibt es seit 1970, Chicago seit 1977, lässt man die ersten Versuche von 1905 bis in die frühen 1920er Jahre beiseite.

Lange Zeit war den Amerikanern im besten Fall die Existenz des Boston-Marathons bekannt, aber nur wenige hatten das Bedürfnis, diesen „Extremsport“ selbst zu versuchen. Es brauchte Frank Shorters Olympiasieg 1972 in München und die damit verbundende Publizität, um das Phänomen auszulösen, das als „Running Boom“ in die Geschichte eingehen sollte.

Jim Fixx schrieb 1977 das Buch „The Complete Book of Running“, von dem in kurzer Zeit mehr als eine Million Exemplare verkauft wurden und das die Joggingbewegung auf Touren brachte. Daran änderte auch nichts, dass der frühere Kettenraucher und arteriosklerotische Fixx im Juli 1984 mit 52 Jahren an akutem Herzversagen starb – beim Laufen.

Die Amerikaner stellten von 1904 bis 1924 acht Olympia-Medaillengewinner im Marathon.

Danach gingen sie 48 Jahre leer aus. Inzwischen ist die USA nur noch das Land der Massenbewegung. Die amerikanischen Läufer spielen im internationalen Vergleich keine Rolle, jedenfalls die Männer nicht. In der Weltrangliste 2014 ist kein einziger Ami unter den ersten 100 zu finden, dafür 55 Kenianer und 34 Äthiopier, in den ersten 20 Rängen gar nur  Läufer aus Ostafrika.

Was auffällt: Die Äthiopier haben zugelegt. Fünf Jahre zuvor waren 62 Kenianer und 26 Äthiopier unter den ersten 100 und unter den ersten 20 bloss vier Äthiopier, aber 13 Kenianer.

Der Mann, der diese Entwicklung vorantrieb, trägt einen italienischen Namen: Renato Canova.  So wie einst Landsmann Gabriele Rosa in Kenia zu Beginn der Neunzigerjahre, war er es, der sein erprobtes Trainingsprogramm nach Äthiopien brachte. Canova hat zwei Coaches, die für ihn arbeiten und wöchentlich Bericht erstatten. Zur Gruppe gehört Kenenisa Bekele und das angeblich erst 20-jährige Wunderkind Tsegaye Mekonnen. Mekonnen lief beim Sieg letztes Jahr in Dubai eine Zeit von 2:04:32. Er ist ein Vertreter der neuen Generation, die nach einer kurzen oder gar keiner Bahnkarriere zum Marathon wechseln, weil nur dort gutes Geld zu verdienen ist.

Aber es gibt auch noch jene, die wie einst Paul Tergat oder Haile Gebrselassie, dem alten Muster folgen. Ein Beispiel ist Bekele, ein anderes Eliud Kipchoge. Zwölf Jahre nachdem er in Paris den WM-Titel über 5000 Meter geholt hatte, dominiert der Kenianer jetzt den Marathon.

Und hätte er in Berlin nicht schon nach wenigen Kilometern mit herausgerutschten Innensohlen kämpfen müssen, wäre Dennis Kimetto kaum mehr der Weltrekordhalter.

Die Entwicklung geht immer weiter. Beim Marathon als Massenereignis wie auch an der Spitze.

Jürg Wirz in der Neuen Zürcher Zeitung, Montag, dem 12.Oktober 2015 

 

 

author: GRR

Comment
0

Leave a reply