Renndirektor Mark Milde hat mir signalisiert, dass er das Rennen für mich organisieren will. Klar habe ich dabei auch Vicsystem im Hinterkopf. Aber wo auf der Welt kann man schnell laufen? In Berlin.
Im Gespräch – Viktor Röthlin, Marathonläufer aus der Schweiz: „Ich bin der Beweis, dass man sauber Medaillen gewinnen kann“ – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
2:07,23 – Zahlen wie diese sprechen für sich. In weniger als 128 Minuten hat der 33 Jahre alte Schweizer Viktor Röthlin im Februar den Tokio-Marathon gewonnen und sich damit in der Weltspitze etabliert. Bereits mit dem Gewinn der Bronzemedaille bei der Weltmeisterschaft in Osaka im vergangenen Jahr, ein Jahr nach der Silbermedaille der Europameisterschaft von Göteborg, hatte der 1,72 Meter große Diplom-Physiotherapeut bewiesen, dass er Biss hat.
Den wird er auch in der Vorbereitung auf Peking 2008 brauchen: Auf der Seiser Alm in Südtirol trainiert er mit dem kenianischen Olympiateam Martin Lel (2:05,15), Samuel Wanjiru (2:05,24) und Robert Cheruiyot (2:07,14).
Letztens sind Sie bei einem Volkslauf eingebrochen. Das passt doch gar nicht zu Ihnen, einen Lauf zu schnell anzugehen!
Sicher bin ich jemand, der sich intensiv Gedanken macht, der sehr viele Mosaiksteine zusammenfügt. Aber ich bin doch auch ein Mensch. Sie sprechen vom Stadtlauf in Luzern. Ich komme von dort, die ganze Stadt war auf den Beinen wegen mir. Die tobten und wollten sehen, wie ich um halb neun am Abend zehn Mal 870 Meter laufe. Da kann ich nicht hinterher rennen, mir das Rennen einteilen und Fünfter werden. Also bin ich voll mit gerannt. Ich hatte gedacht, dass ich sechs Runden mithalte, aber schon nach zwei habe ich gemerkt: das geht nicht gut. Nach drei Runden war ich tot.
Verkörpern Sie und Ihr Team am Beratern das Duell der ausgefeilten Wissenschaft mit den ursprünglichen Talent der kenianischen und äthiopischen Läufer?
So sehe ich es nicht ganz. Durch meine Trainingsaufenthalte in Kenia habe ich starke Entwicklungshilfe in die andere Richtung erhalten. Meine Mentalität und meine Art zu trainieren sind sehr kenianisch. Ich laufe einfach. Ich mache mir keine Gedanken über Zeiten. Und ich setze mir keine Barrieren. Was die wissenschaftlichen Ecksteine meines Trainings angeht: Mit ihnen versuche ich den genetischen Nachteil, den wir gegenüber den afrikanischen Läufern haben, auszugleichen. Viele Afrikaner schenken solchen Dingen keine Beachtung. Weil ich sie nutze, gelingt es mir, international zu reüssieren. Aber der Urgedanke, mit dem ich laufe, ist eher kenianisch als europäisch.
Welcher Urgedanke ist das?
Train hard, win easily. Es gibt keine Geheimnisse der kenianischen Läufer. Ich sehe, dass sie beinhart arbeiten.
Sie trainieren sich selbst. Wie charakterisieren Sie den Athleten Röthlin?
Ich werde oft gefragt, was meine größte Stärke ist im Sport. Ich glaube, es ist die, das Silbertablett mit den tausend guten Gründen, warum es heute nicht, abweisen zu können. Das ist die Fähigkeit, meine Leidensbereitschaft so auszureizen, dass ich im Ziel fast umfalle. Ich kann mich auf ein Rennen, auf so einen Peak hin sehr gut vorbereiten und kann dann auch genau so gut loslassen. Dann bin ich für den Moment ein drittklassiger Läufer. Da laufe ich wie in Luzern einen Schnitt von 2:57 und bin tot. Und in Tokio laufe ich erst 35 Kilometer und dann sieben Kilometer in einem Schnitt von 2:58.
Sie sprechen vom genetischen Nachteil. Heißt das, Sie kämpfen darum, nicht nur der schnellste Marathonläufer im deutschsprachigen Raum, sondern der schnellste Weiße zu werden?
Wenn ich Weltrekord laufen wollte, wäre ich völlig unverhältnismäßig. Aber das Ziel, der schnellste europäische Marathonläufer zu sein, kann ich mir setzen. Oder irgendwann der schnellste Weiße zu sein. Aber mit solchen Zielen werde ich schon wieder zu europäisch. Da setze ich mich mit Zeiten auseinander. Ich bin auf der Suche nach dem perfekten Lauf.
Wie ist es mit Titeln, mit dem Ziel, nach der Bronzemedaille nun eine aus Silber oder Gold zu gewinnen?
Das ist eine andere Geschichte. Bei der Europameisterschaft, bei der Weltmeisterschaft und bei Olympia zählt nur die Medaille. Die Zeit ist egal. Aber das eine kommt mit dem anderen: Wenn du weit vorne bist, sind da ohnehin wenig Europäer anzutreffen.
Sie bieten Training im Internet an. Wie viele Kunden hat Ihr Vicsystem?
So viel kann ich verraten: Von den Neukunden der letzten Zeit kommt ein Drittel aus Deutschland. Wenn ich Olympiasieger werden sollte, kennt man mich auch weiter weg. So aber ist der deutsche Markt der mit dem größten Potential. Wenn ich in Deutschland bekannter würde, könnte ich unseren Umsatz verdoppeln.
Dann sollten Sie mehr in Deutschland starten. 2009 ist Weltmeisterschaft, und nach der Europameisterschaft 2010 in Barcelona wollen Sie Schluss machen mit dem Marathon.
2001 und 2005 bin ich statt bei der Weltmeisterschaft Städtemarathon gelaufen. Das plane ich auch im nächsten Jahr.
Aber die WM ist doch in Berlin.
Das Thema schnellster Europäer wäre in Berlin sicher einen Versuch wert.
Sie wollen statt im August im September in Berlin einen Rekordversuch unternehmen – auf der Strecke, auf der Haile Gebrselassie den Weltrekord von 2:04,26 gelaufen ist?
Renndirektor Mark Milde hat mir signalisiert, dass er das Rennen für mich organisieren will. Klar habe ich dabei auch Vicsystem im Hinterkopf. Aber wo auf der Welt kann man schnell laufen? In Berlin.
Woher haben Sie den Hunger, der Sie antreibt?
Ich habe eine ähnliche Geschichte wie die Kenianer. Ich war mit meinen Eltern nie außerhalb der Schweiz.
Ihr Vater war Baggerführer…
Die Sommerferien haben wir in den Bergen verbracht, auf der Alm. Wenn die Schule begann, haben die Klassenkameraden immer vom Meer erzählt. Und ich konnte nur immer und immer wieder von meinen Alpen sprechen. Meine Eltern sind ur-schweizerisch. Sie sind zufrieden mit ihrer kleinen Welt, sie wollen gar nicht weg. Ich habe davon geträumt, die Welt kennen zulernen. 1993 war ich zum ersten Mal am Meer, bei der Jugend-Europameisterschaft in San Sebastian. Nach zehn Minuten am Strand liegen habe ich gefragt: Und nun? Was machen wir jetzt? Es war langweilig. Ich hatte meine Eltern zeitweise gehasst wegen dieser blöden Bergwanderungen. Jetzt ziehe ich jede Bergwanderung dem Meer vor.
Aber satt hat Sie das nicht gemacht…
Zum ersten Mal weg von der Schweiz kam ich durch die Qualifikation zur Junioren-Weltmeisterschaft in Boston. Ich war achtzehn, allein in Amerika und hatte brutales Heimweh. Aber diese Reise hat etwas in mir ausgelöst: Sie hat mir gezeigt, dass ich durch das Laufen die Chance habe, raus zu kommen, andere Länder zu sehen. Der Hunger wurde immer größer, immer mehr zu sehen.
Ist das Ihr Antrieb?
Ich will den perfekten Lauf machen. Ich hoffe, ich habe ihn noch nicht hinter mir. Und ich habe den Traum Olympia. Seit meinem zweiten Platz von Göteborg bin ich lockerer. Rekorde sind vergänglich. Aber eine internationale Medaille macht dich halt ein bisschen unsterblich. Eine Medaille bei einer Europameisterschaft ist etwas Realistisches. Eine Medaille bei einer Weltmeisterschaft ist eigentlich unmöglich. Dass ich es in Göteborg geschafft hatte, gab mir die Coolness, es auch in Osaka zu packen. Genauso locker kann ich in Peking loslaufen. Ich habe ja schon zwei Medaillen. Das ist mehr als ich mir erträumt hatte, als ich mit zehn Jahren im Fernsehen sah, wie Markus Ryffel in Los Angeles die Silbermedaille über 5000 Meter gewann, und ich von da an Markus Ryffel werden wollte. Wenn mir da einer gesagt hätte, du läufst 2:07,23 Stunden – damals stand der Weltrekord bei 2:08,18 – und du gewinnst Silber bei der EM und Bronze bei der WM, hätte ich gesagt: Ich will ja schon, aber bleiben wir mal auf dem Boden!
Stimmt es, dass Osaka in Wirklichkeit nur die Generalprobe war?
Ich habe vieles ausprobiert, von dem ich nicht wusste, wie ich darauf reagieren würde. Ich habe immer gesagt: Wenn Osaka nicht hinhaut, muss ich entscheiden, ob Peking ein sinnvolles Ziel sein kann. Die Frage hat sich dann erübrigt.
Eigentlich macht doch eine schlechte Generalprobe eine gute Aufführung!
Es gibt ja noch Potential.
Auf die Luftverschmutzung haben Sie sich in Japan nicht vorbereiten können, aber auf Tempo, Distanz und Klima.
Ich habe speziell Distanz und Tempo trainiert, also 38 Kilometer plus fünf Mal tausend Meter auf der Bahn. Ich wusste, dass am Ende nicht mehr viele übrig sein würden und ich sprinten muss. Auf das Klima habe ich mich eingestellt, indem ich zweieinhalb Wochen vorher angereist bin: nicht dorthin, wo es kühl ist, sondern dorthin, wo es feucht und heiß ist.
Stimmt es, dass sie mit einem Gel experimentieren, das dafür sorgt, dass Flüssigkeit länger in ihrem Magen bleibt?
Nein. Ich habe eine Trinkflasche, die mit Liquid-Eis gekühlt wird. Wenn ich sie nehme, leere ich erst die Kühlflüssigkeit über meinen Nacken aus, dann trinke ich. Was wir speziell für Peking ausprobiert haben, sind Darmstabilisatoren. Wir haben Angst davor, dass ich mit dem Essen Probleme kriegen könnte. Wegen der Luftverschmutzung nehme ich bis zum Rennen eine schleimlösende Substanz, die mir die Bronchien freihalten soll. In Japan war das alles nicht notwendig, aber ich habe getestet, wie mein Körper darauf reagiert. Wenn es nur um Osaka gegangen wäre, wäre ich das Risiko nicht eingegangen.
Sie haben im Winter Ihr Training in Kenia abbrechen müssen wegen der Unruhen dort. Obwohl Sie in die Schweiz zurückgekehrt sind, haben Sie kein Höhentraining mehr machen können…
Das Höhenhaus, in das ich ziehen wollte, war defekt. Wegen Sturms fiel die Bahn auf den Berg aus. Da habe ich gesagt: Komm erst einmal an, vergiss das mit der Höhe! Das ist wirklich eine spannende Geschichte, dass ich meine schnellste Zeit laufe ohne Höhentraining! Ich war damit immer erfolgreich. Das nun relativiert die ganze Geschichte. Viel wichtiger ist, dass man im Sommer, in der Aufbauphase, nicht in extremer Hitze läuft und dass man so gute Trainingspartner hat wie ich sie im Engadin hatte.
Können Sie Peking wirklich locker angehen?
Das ist ja das Geniale: Wenn ich nichts gewinne, ändert sich nichts. Finanziell bin ich abgesichert. Als Olympiasieger würde ich noch gefragter sein, als ich es jetzt schon bin. Aber seit Tokio streitet sich ganz Japan nicht nur um den Olympiasieger, sondern auch um den Röthlin. Ich bin in einer Super-Situation. London, in Europa das Maß aller Dinge, ist sehr zeitfixiert. Nach der WM hat Renndirektor Bedford gesagt, Röthlin kann hier laufen. Seit Tokio will er mich. Alle Türen stehen offen, sie können nur noch weiter aufgehen.
Werden Sie im Peking auf Sieg laufen?
Ich werde viel Geduld zeigen müssen. Durch den Riesenschritt, den ich mit meiner Zeit gemacht habe, ergeben sich neue Möglichkeiten im Rennverlauf, etwa die, irgendwann mitzugehen. Renninstinkt und Kopf werden stark gefragt sein. Niemand kann garantieren dass, wie in Osaka, der Kenianer, der an dritter Stelle liegt, bei Kilometer vierzig einbricht.
Können Sie sich auf Ihren Kopf verlassen? Als Sie in Osaka ins Ziel kamen, hatte ich den Eindruck, Sie küssen die Bahn nur, weil Sie ohnehin in die Knie gehen. Sie sind praktisch zusammengebrochen.
Als ich die Bilder von mir sah, war ich selber erschrocken. Ich war durch den Flüssigkeitsverlust sechs Kilo leichter als beim Start. Ich hatte zehn Prozent meines Körpergewichts verloren. So etwas kann tödlich sein. Wie nah ich in Osaka am Kollaps war, habe ich realisiert, als ich sah, wie dicht ich eigentlich an Mubarak Shami dran gewesen war.
Sieben Sekunden.
Ich hatte nicht gemerkt, dass ich eigentlich um die Silbermedaille kämpfte. Als ich ins Stadion kam, hatte ich dreißig Meter Rückstand. Das kann ich eigentlich aufholen. Als ich das auf dem Video gesehen habe, habe ich gesagt: Scheiße, das war eine Riesenchance!
Ist das Misstrauen der Öffentlichkeit schlimmer als das Doping selbst?
Nein. Das Misstrauen haben wir uns durch unser Verhalten selber auf uns gezogen. Die Dopingproblematik existiert in meiner Sportart bestimmt genau so wie in anderen Ausdauersportarten. Ich wäre blauäugig, wenn ich das bestreiten würde. Der Umgang damit ist sehr schwierig. Wenn ich nach der Europameisterschaft von Göteborg in einem Gartenlokal sitze und höre, wie ein Mann zu einem anderen sagt: "Der Röthlin, genial am Sonntag!" Und der andere antwortet: "Ja, aber der ist sowieso gedopt." Das tut weh.
Das haben Sie erlebt?
Ja, hier in Zürich. Ich habe mich kurz gefragt, ob ich hingehen und einen guten Tag wünschen soll. Ich habe es nicht gemacht, denn eigentlich ist es logisch, dass sie so denken. Wir haben diese Vermutung ja immer wieder geschürt. Ich weiß genau, was ich mache und was ich nicht mache. Aber ich habe keine Möglichkeit, das irgendjemandem zu beweisen. Das ist das Härteste für mich.
Denken Sie manchmal über andere Läufer: Der ist bestimmt voll?
Ich kann es ja nur für mich wissen. Ich weiß, dass ich sauber bin. Aber für den, der schneller ist, will ich gar nicht mehr überlegen. Es ändert nichts. Und wenn man damit anfängt, macht man sich kaputt. Anders ist es, wenn einer überführt wird: Dann kann es nur eine lebenslange Sperre geben. Nur so bekommt man diese Leute weg.
Was macht Ihnen Hoffnung?
Wenn ich mit Kindern oder Jugendlichen arbeite, sage ich ihnen: In meiner Sportart kann man sauber Medaillen gewinnen. Ich bin der Beweis. Ich weiß es; ob ihr mir das glauben wollt, ist eure Sache. Das ist eigentlich der größte Gewinn: Bis 2006 war ich nicht sicher, ob das in meiner Sportart möglich ist. Jetzt habe ich es mir selber bewiesen.
Die Fragen stellte Michael Reinsch – Frankfurter Allgemeine Zeitung, Dienstag, dem 1. Juli 2008