Ich liebe mein Land und würde es nie verlassen. Und jetzt sitze ich hier in Europa und kann nur beten.
Im Gespräch: Jamaikas Sprinterin Fraser – „Das ist nicht das Land, das wir wollen“ – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Shelly-Ann Fraser überraschen die Unruhen in ihrer Heimat Jamaika nicht. Die Olympiasiegerin ist in einem Ghetto im Norden von Kingston aufgewachsen. Im Interview spricht die Sprinterin über den Bürgerkrieg und ein Leben ohne Hoffnung.
Sie haben am Freitag in Ostrava einen 100-Meter-Sprint gewonnen – fern ihrer Heimat. Wissen Sie, ob es Ihrer Familie in Jamaika gut geht?
Gott sei Dank. Wir leben ja nicht mehr dort, wo jetzt geschossen wird. Als ich Olympiasiegerin geworden war, sind wir aus Waterhouse weggezogen. Dort ist es so ähnlich wie in Tivoli. Meine Großmutter und meine Tanten leben noch dort. Es wird ab und zu geschossen, aber ihnen geht es gut.
Können Sie erklären, was in Tivoli Gardens vor sich geht?
Nicht wirklich. Ich finde es schrecklich. Da werden unschuldige Leute als Geiseln genommen. Ich bete jeden Tag dafür, dass meine Landsleute die Stärke zurückerlangen, ihre Leute zu führen.
Haben Sie Angst um Freunde?
"Es ist traurig, dass es einen Bürgerkrieg braucht"
Mir macht Sorgen, dass die Schulen geschlossen wurden. Für die ältesten Schüler der High Schools stehen die wichtigsten Prüfungen ihres Lebens an. Jetzt entscheidet sich, ob sie aufs College gehen dürfen oder nicht. Und sie können nicht lernen, sie können nicht in ihre Schulen. Diese Vorgänge berühren das Land und seine Kinder.
Es scheint ein politisches und gesellschaftliches Vakuum zu geben, das Christopher Coke gefüllt hat…
Politik und Kriminalität spielen eine Rolle, Politiker und Paten. Als die Amerikaner die Auslieferung von Christopher forderten, haben sich viele Leute dagegen gewehrt. Er soll ihnen sehr geholfen haben, deshalb stehen sie loyal zu ihm.
Die Geschichte von Robin Hood?
So sehen ihn wohl viele Leute. Es ist traurig, dass es einen Bürgerkrieg braucht, um für ein positives Ende der Geschichte zu sorgen.
Bürgerkrieg – das sagen Sie, die Ihren Erfolg stets als Beispiel dafür beschrieben hat, dass man das Getto verlassen kann!
Ich liebe mein Land und würde es nie verlassen. Und jetzt sitze ich hier in Europa und kann nur beten. Ich höre, dass der Polizei Nahrung und Wasser ausgehen. Da müssen die Geschäftsleute von Jamaika einspringen! Wir können nicht erlauben, dass Kriminelle unser Land übernehmen. Das ist nicht das Land, das wir wollen.
Soll die Geschäftswelt nach der Polizei die Armen unterstützen?
Die Leute in den Gettos müssen lernen, dass es einen legalen Weg dort raus gibt. Es ist eine Schande, dass nicht alle eine ausreichende Schulbildung haben, um Arbeit zu finden. Aber die meisten von ihnen sind faul; sie wollen nicht arbeiten. Das ist ihre Mentalität. Die Regierung muss bei der Bildung ansetzen. Schulbesuch darf nichts kosten.
Sie hatten das Glück, ein Stipendium zu erhalten . . .
“Ich finde es schrecklich“
Ich habe zwei Jahre lang eines bekommen. Jetzt lehne ich es ab, weil ich Geld kriegen würde, mit dem jemand unterstützt werden soll, der sonst nicht studieren könnte.
Was studieren Sie?
Verhaltenswissenschaft im Hauptfach, Management im Nebenfach. Ich habe noch zwei Jahre vor mir. In diesem Jahr habe ich den Sommer über Unterricht, im Oktober verzichte auf die Commonwealth Games zugunsten der Schule.
Haben Sie mit dem Laufen nicht genug zu tun?
Ich will das Studium beenden – mit der allerbesten Auszeichnung.
Als Kind schliefen Sie mit Mutter und Brüdern in einem Bett; Sie rannten barfuß; manchmal reichte es nur für eine Mahlzeit am Tag. Was hat Sie aus den Lebensumständen befreit, in die hinein Sie geboren wurden?
Ich bin schnell, aber ich musste mich darauf konzentrieren, daraus etwas zu machen. Ich bin auf eine der besten High Schools von Jamaika gegangen, Wolmer’s. Ich habe mich entschieden, Sport als meinen Weg raus zu benutzen. Bildung wirkt eher langfristig. Ich habe für beides gearbeitet. Das war sehr, sehr schwer dort, wo ich aufgewachsen bin.
Beschreiben Sie Ihren Antrieb.
Ich war entschlossen, nicht eine weitere Nummer in der Statistik zu sein; ein Mädchen, das sich in einer heruntergekommenen Nachbarschaft mit Schimpfwörtern rufen lässt, das auf der Straße rumhängt, schwanger wird, die Schule verlässt. Das hatte ich vor Augen: junge Mädchen von fünfzehn, von vierzehn, die mit Kind und vier, fünf Geschwistern bei ihrer Mutter wohnen, und vor denen niemand Respekt hat, im Gegenteil. Das wollte ich mir nicht antun, und meiner Mutter und meiner Großmutter auch nicht.
Bevor Sie Olympiasiegerin wurden, hat Ihr Verband diskutiert, an Ihrer Stelle Veronika Campbell-Brown einzusetzen. Bevor Sie Weltmeisterin wurden, hat der Verband Sie und andere aus dem Team gestrichen, weil Sie nicht ins Trainingslager kamen. Gibt es für Sie nur Widerstände?
Vor Peking habe ich die Regeln gelesen, dann wusste ich, dass ich als Zweite der Trials das Recht hatte, zu starten. Im folgenden Jahr habe ich mich so sehr aufgeregt, dass ich darüber nachdachte, die Staatsbürgerschaft zu wechseln. Wir tragen ein gelbes Trikot, auf dem in Schwarz Jamaika steht, und unsere Shorts sind grün. Wir vertreten unser Land, und wir werden immer tun, was das Beste für unser Land ist. Dazu gehört unser Trainingsplan. Der Verband ist nicht das Volk.
Das Gespräch führte Michael Reinsch. Frankfurter Allgemeine Zeitung, Montag, dem 31. Mai 2010
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