Wie soll der Leichtathletikverband den Fall Werner Goldmann lösen, wie der Skiverband den Fall Frank Ullrich? Sobald sich ein Zeuge findet, steht ein Einzelfall in der Diskussion. Es war ja ganz üblich in der DDR, dass ein Trainer Dopingmittel verabreicht hat . . .
Im Gespräch: Innenminister Wolfgang Schäuble – „Straf- wie sportrechtlich sind alle Verjährungsfristen abgelaufen“ – Das Gespräch führte Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
27. März 2009 Wolfgang Schäuble (CDU) war Bundesinnenminister, als vor bald zwanzig Jahren die Mauer fiel. Seit 2005 ist er zum zweiten Mal als Innenminister im Kabinett für den Sport zuständig.
Im FAZ.NET-Interview spricht Schäuble über den Umgang mit dopingbelasteten Trainern und eigene Fehler.
Kaum waren Sie 1972 in den Bundestag gewählt, wurden Sie Mitglied im Sportausschuss. Hat sich Ihr Blick auf den Sport seitdem verändert?
Ich war und bin sportbegeistert völlig unabhängig von der Politik. Im Lauf der Zeit ändern sich Perspektiven. Manchmal wird man schon enttäuscht. Wir Menschen neigen dazu, durch Übersteigerung alles zu gefährden. Das ist in der Finanz- und Bankenkrise nicht anders. Und das ist im Sport so. Alle wollen gewinnen. Im Zweifel sind wir alle in der Versuchung zu schummeln.
Hat der Sport des Westens die Herausforderung angenommen, Sport zu einem Teil des Kalten Krieges zu machen?
Er war natürlich Teil des System-Wettbewerbes. Das sollte man nicht zu lange in Abrede stellen. Die gesamtdeutschen Olympiaausscheidungen 1960 und 1964 waren ja fast spannender als die Olympischen Spiele selber, so groß war die Rivalität. Aber es war richtig, dass wir wieder und wieder gesagt haben, man kann auch unter freiheitlichen Bedingungen Schritt halten. Die DDR war uns in den Medaillenstatistiken mit Abstand überlegen, und sie war auch im Ostblock ganz vorn. Ja, die Deutschen! Wenn sie etwas richtig machen, dann sind sie immer ganz gut, aber sie können es auch auf die Spitze treiben.
Vermutlich gab es deshalb auch den Missbrauch mit leistungsfördernden Mitteln. Aber es wäre falsch, alle Erfolge darauf zurückzuführen und jeden Sportler in Verdacht zu bringen. Und in manchen Bereichen waren sie trainingsmethodisch sehr gut. Außerdem wissen wir, dass es im Westen auch großen Mist gab. Als jemand, der in Freiburg studiert hat, muss ich sagen: Dass ausgerechnet die Sportmedizin der Uni Freiburg sich in einem solchen Maße hat verstricken lassen, ist schmerzlich.
Hatten Sie als Mitglied des Sportausschusses und als Innenminister eine Vorstellung vom Ausmaß der Manipulationen in der DDR?
Nein. Die Debatte kam in den siebziger Jahren auf, als man das Gefühl hatte, einige Sportlerinnen wirkten doch sehr männlich. Mit den anabolen Steroiden, das kam später. So eine richtige Vorstellung habe ich davon nicht gehabt. In den achtziger Jahren habe ich mich nicht mehr so intensiv um den Sport gekümmert, weil ich andere Aufgaben in der Politik und in der Regierung hatte.
Peter Danckert, der Vorsitzende des Sportausschusses, zitiert Sie in seinem Buch aus der berühmten Sportausschusssitzung vom Oktober 1977 und schreibt dann, der Sport der Bundesrepublik habe an einer Wegscheide gestanden: „Als übergeordnete Zielstellung dominierte damals hierzulande die unheilvolle sportpolitische Haltung, mit geeigneten Strategien, wie auch immer sie auszusehen hätten, den DDR-Sporterfolgen Paroli bieten zu müssen.“ Hat er Recht?
So etwas kann nur einer schreiben, der sich damals vermutlich überhaupt nicht für Sportpolitik interessiert und jedenfalls nicht wirklich Ahnung hat. Wie man einen solchen Unsinn in Buchform veröffentlichen kann, das ist fast ein bisschen schmerzhaft. Wenn Sie die Verantwortlichen im deutschen Sport von damals nehmen, Willi Weyer und Willi Daume, in der Regierung Werner Maihofer – dann wissen Sie, dass das abenteuerliche Vorstellungen sind. Mit der Wirklichkeit haben sie nichts zu tun. Wahr ist, dass wir alle gesagt haben, man kann auch in einem freiheitlichen System Spitzenleistung bringen und Medaillen erringen, und wir wollen jungen Leuten die Möglichkeit bieten, wenn sie das wollen.
Dabei ist es nicht geblieben.
Es passieren immer auch Fehler. Damals stand in der Debatte gar nicht so sehr Doping im Vordergrund, sondern vielmehr Geld. In jener Zeit begann der Umbruch. Es ging darum, die Vorstellung vom reinen Amateur, die auch Elemente von Unwahrhaftigkeit hatten, aufzubrechen. Es folgte die Debatte über sportmedizinische Betreuung.
. . . in der Sie sagten, man solle Doping nicht grundsätzlich verbieten, sondern von verantwortungsbewussten Medizinern vornehmen lassen, wenn man doch wisse, dass dies nicht zu kontrollieren und so auch gar nicht gemeint sei.
Gut, dass alles aufgeschrieben wird. Ich würde das nie mehr so sagen. Aber man darf nach dreißig Jahren auch ein bisschen klüger sein. Man sollte niemanden an Sprüchen messen, die er vor dreißig Jahren getan hat; das fällt auf den zurück, der es tut.
Wie soll der Leichtathletikverband den Fall Werner Goldmann lösen, wie der Skiverband den Fall Frank Ullrich? Sobald sich ein Zeuge findet, steht ein Einzelfall in der Diskussion. Es war ja ganz üblich in der DDR, dass ein Trainer Dopingmittel verabreicht hat . . .
Und anderswo auch. Wir dürfen die Debatte über Belastungen aus der Vergangenheit nicht so führen, dass sie auf dem Gebiet der ehemaligen DDR als diskriminierend empfunden wird. Ganz so sauber war es in der alten Bundesrepublik auch nicht. Und man muss sehen: Es gibt für all dies, strafrechtlich wie sportrechtlich, Verjährungsfristen. Sie sind alle abgelaufen.
Man kann das doch nicht ignorieren!
Das tut auch niemand. Selbstverständlich kann man nicht aus öffentlichen Mitteln Trainer bezahlen, von denen man nicht sicher sein kann, dass sie konsequent gegen Doping sind. Wer in der Vergangenheit gedopt hat, zu dem ist es schwierig, Vertrauen zu haben. Deshalb hat der Deutsche Sportbund unmittelbar nach der Einheit eine Kommission eingesetzt.
. . . die Reiter-Kommission unter Leitung des Präsidenten des Bundessozialgerichtes . . .
Daran war ich als Innenminister beteiligt. Nun, fast zwanzig Jahre später, gibt es die Steiner-Kommission. Ich begrüße, dass der DLV im Fall Goldmann eng mit ihr zusammengearbeitet hat. Und es gibt die Initiative von Trainern, reinen Tisch zu machen. Wenn der Sport da eine Lösung finden könnte, vielleicht eine Selbstbezichtigung, die es dann erlaubt zu sagen, die Sache ist erledigt, sie liegt mehr als zwanzig Jahre zurück, und wenn man zudem sagen kann, diese Trainer bieten die Gewähr, dass sie sauberen Sport trainieren, dann ist das in Ordnung. Wenn aber einer diese Gewähr nicht bietet, weil er aus der Vergangenheit seine Lehren nicht gezogen hat, dann kann man ihn nicht beschäftigen.
Eine Tätigkeit im DDR-Sport allein ist kein Ausschlusskriterium?
"Wir dürfen die Debatte über Belastungen aus der Vergangenheit nicht so führen, dass sie auf dem Gebiet der ehemaligen DDR als diskriminierend empfunden wird"
Es wäre doch absurd, wenn jemand, der irgendwann in seinem Leben mit Doping zu tun hatte, nie mehr als Trainer beschäftigt werden kann. Ich glaube, wir sind in der Endphase der Auseinandersetzung mit diesem Teil unserer Vergangenheit. Den Beteiligten ist allemal zu raten, die Dinge auf den Tisch zu legen. Aber dann müssen sie auch die Chance bekommen, dass man sagt: Das ist so lange her, dass es nach allen rechtlichen und sportrechtlichen Maßstäben verjährt ist.
Sie fordern, durch Vergangenheitsbewältigung nicht die Menschen zu diskriminieren. Wie beurteilen Sie Veröffentlichungen und Fernsehauftritte von Werner Franke?
Die beurteile ich gar nicht. Aber er hat ganz unbestreitbar seine Verdienste. Und besonders seine Frau hat wohl unter einer verfälschten Konkurrenz gelitten. Beide haben einen langen Kampf geführt, und in vielen Dingen haben sie leider recht behalten. Ich habe Franke nicht so verstanden, dass er eine Ost-West-Debatte führt.
Viele Athleten und Trainer aus der DDR-Zeit werfen ihm genau das vor.
Man kann gerade als jemand, der stolz ist auf die Erfolge der Leichtathletik in der DDR, schwer bestreiten, dass dort in erheblichem Maße Wettbewerb verfälscht worden ist. So will ich nicht verstanden werden: dass man nicht drüber redet. Ich will schon sagen, dass es das vermutlich in der DDR mehr gegeben hat, aber das hat’s in der Bundesrepublik auch gegeben. Und wir sollten gemeinsam alles daransetzen, dass wir es in der Zukunft nicht haben. Wir wissen, dass es falsch war. Wir haben ja ganze Rekordlisten abgeschafft.
Sie waren vor zwanzig Jahren dafür, die Stasi-Akten nicht zu öffnen. Hätte das für eine friedlichere Einheit im Sport gesorgt?
Ich hatte bei einem Interview erzählt, dass das kurzzeitig eine Auffassung des damaligen Bundeskanzlers war, die ich zuerst teilte. Wir haben damals gesagt: Es wird so viele Verletzungen geben! Die Grundlinie unserer Denkweise war: Wichtig ist, dass wir uns auf die Zukunft konzentrieren. Den Wunsch der frei gewählten Volkskammer nach Aufarbeitung haben wir dann natürlich respektiert. Rückblickend kann man sagen, wir konnten uns das als größeres, vereintes Deutschland leisten. Und die große Aufgabe, zwei völlig unterschiedliche Sportkulturen zu integrieren, ist gut gelungen.
Sie haben gedacht wie ein Sportler.
Ich habe lange Tennis gespielt. Da gibt es die Regel: Ärger dich nicht über deinen Doppelfehler, konzentrier dich auf den nächsten Ball!
Das Gespräch führte Michael Reinsch. Frankfurter Allgemeine Zeitung, Freitag, dem 27. März