Kein Spielplatz: 2010 sollen Fehlstarts sofort zur Disqualifikation führen
IAAF-Council – Schwacher Reformwillen – Michael Reinsch, Berlin, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
22. März 2009 „Null Toleranz“ heißt die Devise in der Leichtathletik mehr denn je. Bei der zweitägigen Sitzung des Councils des Welt-Leichtathletikverbandes IAAF am Wochenende in Berlin ging es dabei nicht in erster Linie um Doping, sondern um Fehlstarts. Nach jahrelanger Diskussion soll die Vollversammlung der IAAF im Herbst entscheiden – um mehr als eine Empfehlung ging es jetzt nicht – , dass von 2010 an Sprinter, die einen Fehlstart verursachen, sofort disqualifiziert werden sollen.
Bislang darf im Feld insgesamt ein Fehlstart folgenlos passieren, erst vom zweiten Fehlstart an werden die Verursacher ausgeschlossen. So sollen Versuche nervenstarker Athleten unterbunden werden, nervenschwache zu verunsichern. „Dies ist die einzige Gelegenheit, Gegner auf einer anderen Bahn zu beeinflussen“, sagt Hansjörg Wirtz, Präsident des europäischen Verbandes. „Es wurde Zeit, dies zu ändern.“
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Digel kommentiert bitter
Damit ist es mit den Innovationen bei der Leichtathletik auch fast schon getan. Eine Konzentration der Finals auf sieben von neun WM-Abende soll folgen – dies würde, so führte der amerikanische Funktionär Robert Hersh aus, die Weltmeisterschaften von 2011 an (sie finden dann in Daegu in Südkorea) statt – für diejenigen attraktiver machen, die kurze Aufmerksamkeitsspannen haben, und damit auch für Fernsehen und Sponsoren.
Sein deutscher Kollege Helmut Digel, der kürzlich mit der These Aufmerksamkeit erregt hatte, die Leichtathletik stecke in einer tiefen Krise und ihr Weltverband IAAF sei nicht fähig zu Reformen, kommentierte bitter die Berliner Empfehlungen: „Mich dürfen Sie dazu nicht mehr fragen.“ IAAF-Präsident Lamine Diack hatte den ehemaligen Präsidenten des deutschen Verbandes verantwortungslos geschimpft, weil dieser seine Kritik vor der Neuverhandlung des in diesem Jahr auslaufenden Fernsehvertrages für Europa veröffentlicht hatte. „Man muss über Fakten sprechen“, forderte Digel, „nicht darüber, wer sie ausgesprochen hat.“
Profunde Innovationen sind kein Thema
Manche Funktionäre sollen glauben, mit der verschärften Fehlstartregel etwas für die Attraktivität ihrer Sportart im Fernsehen getan zu haben – die Zuschauer seien angeblich so ungeduldig, dass sie nach einem Fehlstart umschalten. Profunde Änderungen und Innovationen, die über eine Umstellung der Disziplinen beim Zehnkampf und den Start zu dessen 1500-Meter-Lauf nach der Gundersen-Methode (der Erste im Ziel wäre dann auch der Gesamtsieger) hinausgehen, sind für sie kein Thema. „Wir werden nicht die traditionellen Wettbewerbe opfern“, sagte Vizepräsident Sergej Bubka. „Wenn Hammerwurf und Gehen bei manchen Veranstaltungen nicht im Stadion stattfinden können, müssen wir wenigstens ihre Sieger gemeinsam mit den anderen ehren.“
Hersh sagte es so: „Das Schöne an der Leichtathletik ist, dass in jeder Disziplin auch hundert Jahre Geschichte mit am Start sind.“ Die Weitenmessung auf Basis einer elektronischen optischen Überwachung wird bei der WM in Berlin deshalb zwar eingesetzt werden. Aber nur als Test. Entscheiden werden, wie eh und je in der Leichtathletik-Geschichte, die Kampfrichter.
Gegen Chambers wird der Verband nicht vorgehen
Null Toleranz heißt auch die Devise gegenüber dem ehemaligen Balco-Doper Dwain Chambers, der sich bei der Hallen-Europameisterschaft von Turin als schnellster Sprinter Europas erwiesen hat. Er wirft er in seiner Autobiographie führenden Funktionären Doppelmoral und dem Verband Unfähigkeit vor, einen Doper wie ihn zu erwischen. 300 verschiedene Substanzen habe er genommen, doch ertappt wurde er nur, weil Trevor Graham, der Konkurrent seines Doping-Lieferanten Victor Conte, eine Spritze mit dem Designer-Steroid THG an ein Anti-Doping-Labor schickte.
Chambers räumt ein, wieder mit seinen alten Doping-Komplizen Conte und Remi Korchemny zusammenzuarbeiten, diesmal sauber. „Das Buch! Das Buch!“, rief IAAF-Generalsekretär Pierre Weiss in Berlin spöttisch. „Wir haben drei Ausgaben gekauft und unsere Rechtsanwälte gebeten, es zu lesen. Sie sind nicht zu dem Ergebnis gekommen, dass er die IAAF angreift.“
Der Verband werde nichts unternehmen. Dennoch bleibt Chambers von großen Sportfesten ausgeschlossen. Auch die Veranstalter der Great City Games in Manchester, bei denen Olympiasieger Usain Bolt im Mai 150 Meter laufen soll, haben ihn nicht eingeladen. Nach der Aussicht gefragt, dass Chambers mit dem Gewinn der Weltmeisterschaft im August in Berlin 60.000 seiner gut 100.000 Dollar Schulden beim Weltverband zurückzahlen könnte, erwiderte Weiss: „Ich würde lieber Medaillengewinner sehen, die nicht dreckig waren in ihrem Leben.“
Sebastian Coe, Olympiasieger auf der Mittelstrecke und Präsident des Organisationskomitees der Olympischen Spiele 2012 in London, reagierte auf die Frage, ob er Europameister Chambers für sauber halte, so: „Ich muss das annehmen. Schuld kann nur durch einen positiven Tests belegt werden.“ Dahinter dürfte sich die Hoffnung verbergen, Chambers doch noch zu überführen.
Der Sprinter hat Coe des Ehebruchs und der Scheinheiligkeit bezichtigt.
Michael Reinsch, Berlin, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Montag, dem 23. März 2009